Menschen, die außerhalb der Gemeinschaft in der Wildnis - Wald, Busch oder Feld - leben, sind nicht geheuer und werden in der Vorstellung zum suspekten Waldbewohner, leicht zum Ungeheuer, zum Wilden Mann, den es seit dem Hochmittelalter in vielen Spachen gibt: lat. silvaticus, engl. woodwose, forest dweller, frz. homme sauvage, it. uomo selvatico, span. hombre salvaje o ser de los bosques, port. Homem selvagem, bask. Gizon Basatia, slavisch Leshy, lešij, russ. леший oder Дикий человек usw. 1). Unveränderlich durch alle Zeiten bleibt der Wilde Mann ein stark behaarter Einzelner.
Die Figur des Wilden Mannes ist weit älter als der Begriff und findet seine Wurzeln in Göttern, Vegetationsgeistern, Halbgöttern, Heroen. Als psychologischer Archetyp steht er für den Menschen, der sich aus der Natur entfernt hat, indem er den Apfel der Erkenntnis aß. Dennoch bleibt er seiner Abstammung nach ein Tier. Diese archetypische Figur ist erschreckend und furchteinflößend, jedoch nicht feindlich gesinnt. Es ist vielmehr die Furcht vor der eigenen Wildheit, die angesprochen wird, weil der Mensch ursprünglich Teil der Wildnis war.
Dort wird er durch seine Nähe zur Natur, durch Kraft und Stärke auch zur beschützenden Figur, seine Attribute sind Bart und Haare, Keule und einfachste Bekleidung (z.B. Blätter, Fell):
Esau
steht als Jäger seinem kahlen und kultivierten Bruder Jakob
gegenüber (Gen 25,29-34; 27,31). Starke Behaarung steht einerseits für Wildheit und andererseits für Dominanz über wilde Tiere 2).Enkidu
des Gilgamesch-Epos (2./3. Jahrtausend BC in Mesopotamien) war völlig behaart und nur äußerlich menschenähnlich, lebte jedoch mit den Tieren, bis ihn die Tempeldienerin Schamchat
sieben Tage und Nächte lang verführte. Dabei erwarb er Einsicht, Vernunft und Sprache, so dass ihn fortan die Tiere mieden. Christophorus
mit dem Wurzelstock und Knecht Ruprecht
mit der Rute an den Wilden Mann. Christophorus war ursprünglich hundeköpfig und wurde wegen seiner Sprachbegabung mit herausgestreckter Zunge dargestellt. Groschner, Gabriele
Siefker, Phyllis
Den Zwischenraum außerhalb des befriedeten Raumes teilte der Wilde Mann mit mythischen Waldgeistern, die im Unterschied zum Wilden Mann jedoch Mischwesen sind wie der man-of-the-bush, Zwischenwesen wie ein Satyr mit Hörnern oder Bocksfüßen, über- oder unterirdisch hausend.
Hans Findeisen
Das Tier als Gott, Dämon und Ahne, Kosmos Stuttgart 1956.Als Waldgänger, Warger oder Vargr ist er ein Friedloser oder rumelant (homo qui per silvas vadit) 3), weil er nicht friedlich in und mit seiner Gemeinschaft leben kann, daraus verstoßen wurde und wieder zum Tier wird. Daraus begründet sich eine moralische Norm und ein Rechtsgrundsatz, der den Waldgänger als ehrlos, rechtlos und heimatlos kennzeichnet, einen Outlaw eben. Acht und Bann waren de jure keine Todesstrafe, liefen jedoch de facto darauf hinaus. Über viele Jahrhunderte bedeutete in Germanien zu siedeln mit der Großfamilie in einem einräumigen Langhaus mit Gesinde und Vieh zu leben. Wer dort ausgeschlossen wurde, fand keine neue Heimat in einer Welt, die kaum größere Dörfer und gar keine Städte kannte. Es blieb nur der Weg in den Wald. 4). Ursprünglich müssen diese Geächteten wohl Wolfsfelle getragen haben 5). Erst 1030 wurde ein Gesetz erlassen, das Waldgängern nach 20 Jahren in der Wildnis die Rückkehr in die Gemeinschaft erlaubte. 6)
Strafrechtlich erwuchsen die Friedlosen aus dem germanischen Rechtsverständnis des Mittelalters. Dieses wurde bis ins 13. Jahrhundert zunehmend institutionalisiert durch Kirche (Bann) und Herrscher (Acht).
Siuts, Hinrich
Scheil, Elfriede
Die wohl älteste Darstellungen eines Wilden Mannes finden sich im französischen Raum um das Jahr 1.000 7); die Wilde Frau (lamia, holzmoia vel wildaz wip) wird in den Mondseer Fragmenten (des 10. Jahrhunderts genannt. In der zweiten Hälfte des 12. Jahrhunderts bezeichnet sich ein geistlicher (!) Dichter selbst als Wilden Mann 8). Bis zum 14. Jahrhundert sind aus unheimlichen Kreaturen freundlichere Wesen geworden und erscheinen auf Spielkarten, Wandteppichen, Plastiken, Münzen und Wappen. Die Wilden Leute lassen sich auch deuten als Ausdruck einer Sozialkritik am städtischen Leben und Vision neuer Freiheiten 9).
Zapperi, Roberto
Pedro Gonzalez
und seiner Kinder.Heinrichs II.
Durch einen genetischen Defekt (Hypertrichose) ist er am gesameten Körper blond behaart und vererbt dies auch seinen Nachkommen, die später in einem Dorf am See von Bolsena in Italien leben. Der Autor hat diese Geschichte bis ins 17. Jahrhundert recherchiert und stellt sie dar als Kulturgeschichte entlang der Grenze zur Wildnis, als Suche nach der Abgrenzung zwischen Mensch und Tier.M A Katritzky
Der Wilde Mann und die Wilde Frau wurden von der mythischen Figur zum Stereotyp von Außenseitern, die ein Leben Einzelner außerhalb der Gemeinschaft führten, also auch allgemeingültige Normen (Sitten, Gebräuche, Regeln) neu definierten: »homo agrestis corpore magnus et pilosus ut porcus« 10), von bäurischer Gestalt und behaart wie ein Schwein. Gegensätze zeigten sich in Natur/Kultur, Christentum/Heiden, befriedeter Bereich/Wildnis, Vertrautes/Fremdes, Heimat/Unterwegs-sein, Wildes/Zahmes, Trieb/Askese, bekleidet/nackt (→ Fahrende Händler), grob/fein usw.
Neu war jedoch, das sich die Bewertung dieser Gegensätze veränderte, dass ein Leben außerhalb nicht mehr nur ein Leben in Sünde und Verdammnis war, sondern als Lebensform mit neuen Möglichkeiten wahrgenommen wurde 11).
Der deutsche Prediger Johann Geiler von Kaysersberg
(1445–1510) unterschied zwar fünf im Wald wohnende Menschentypen 12), jedoch wurden diese von ihm nicht als richtige Menschen angesehen, weil sie sich aus unterschiedlichen Gründen aus der Gemeinschaft gelöst hatten:
Friedrich, Udo
White, Hayden
Dass wilde Leute aus dem Wald in die Städte kamen und dort blieben ist sicher, denn sprachübergreifend entstanden ab dem 13. Jahrhundert dementsprechende Bei- und Familiennanmen, die belegen, dass es ein Vorstellungsmuster 14) für diese Namenzuweisung gab:
L. L. Möller
Tobias Gärtner
Wilckens, Leonie von
Parallel dazu entsteht der Edle Wilde als eine Figur des Entdeckungszeitalters ab dem 15. Jahrhundert, die zunächst dazu diente über den Blick von außen Gesellschaftsutopien zu formulieren, im 18. Jahrhunderts dann romantisierend das Rousseausche Zurück zur Natur verklärend und im Deutschen als Waldeinsamkeit verklärend. Im Englischen war der sauvage `Wilder´ ursprünglich synonym zu Wilder Mann und wildem Tier und wurde erst im sentimentalen 17. Jahrhundert zum nature's gentleman.
Die zeitgenössische Fortsetzung zeigt sich in Lebensformen wie dem Traum vom einfachen Leben, Frugalismus, Autarkie auf dem Land.
Bartra, Roger
Bernheimer, Richard
Borchers, Carl
Dieckhoff, Reiner
Dudley, E.
, Novak, M.E.
(Hg.)Fréger, Charles
Janine Gunzinam
Giese, Wilhelm
Graßmann, Peter
Husband, Timothy
; Gloria Gilmore-House
Kofler, Walter
(Hg.)Werner Lynge
Mobley, Gregory
Müller, Ulrich
, Werner Wunderlich
(Hg.)Mulertt, Werner
Nash, Richard
Th. Nolte
Rachewiltz, Siegfried de
Spamer, Adolf
Spielmann, Heinz
Stock, Lorraine Kochanske
Mathias Winkler
: Haare/Haartracht in: BibellexikonLarissa Schuler-Lang
Luciana Villas Bôas
Hans Schäufelein
und dem zugehörigen Gedicht von Hans Sachs
Zingerle von Summersberg, Oswald
Yamamoto, Dorothy
Geiler von Kaysersberg, Johannes
Alexander VI.
im Vertrag von Tordesillas die Welt zwischen Spanien und Portugal auf.