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Fußreisen

von Norbert Lüdtke
erschienen erstmals 1999 als Teil 7 in der Artikelreihe Geschichten des Individuellen Reisens im TROTTER 93 (Deutsche Zentrale für Globetrotter e.V. DZG) sowie 1999 im Archiv zur Geschichte des Individuellen Reisens AGIR

Du Gehender, es gibt keine Wege, 
nur die Fährten des Windes auf dem Meer.
Antonio Machado y Ruiz 1875-1939

Reisen wie im Traum

Es war einmal … ein Reisender, der aufbrach in eine unbekannte Welt. Jeder Tag war voller Wunder und Gefahren, hinter jedem Horizont lagen Paradies und Hölle, Märchen und Sagen, Götter und Dämonen, Angst und Hoffnung. Unserem wandernden Urahn schien die Welt unendlich. Tiere, Bäume, Landschaften ließen sich ein erstes und letztes Mal schauen. Niemals kehrten diese ersten Augen-blicke wieder. Tags zuvor noch waren Räume unbetreten, voll unendlicher Möglichkeiten, dann brach Realität hinein, Dinge wurden gesehen, gehört, getastet, gerochen und geschmeckt – erstmals wahrgenommen von einem Wanderer.
Zehntausende, vielleicht hunderttausende Jahre begann dieses Märchen immer wieder neu. Undenkbare Universen wurden Schritt für Schritt ins Bewußtsein geholt und auf ein menschliches Maß gestutzt. Je mehr Raum wurde, desto kleiner geriet die Erde. Sie unterwarf sich um einen hohen Preis: Tag für Tag starben die Träume. Unsere Ahnen durchschritten die Erde, nahmen sie wahr und schufen sie neu. Sie schauten links und gaben dem Neuen einen Namen und sie schauten rechts und gaben dem Neuen einen anderen Namen. Das Wissen wuchs, Glaube und Phantasie schwanden. Sie übten göttliche Taten. Namen lassen sich mitnehmen, der geheime Name eines Dinges ist identisch mit dem Ding, verleiht Macht. Sie machten sich die Erde untertan und blieben Wanderer mit dem Glauben an eine bessere Welt hinter dem Horizont. Es war die Zeit, als die Götter noch auf der Erde lebten.

Was ist die Welt für den heutigen Menschen, den modernen Wanderer? Zu wissen, woher der Fluß kommt, wohin er fließt, was hinter den Bergen liegt und wo die Küste beginnt … die Erde ist eine Kugel, dort ist Norden, hier gibt es Elefanten, Einhörner existieren nicht …

Zu Fuß reisen — heißt das, Nutzloses erobern? Erreichen Fußreisende etwas, das andere nicht früher haben könnten? War nicht immer schon jemand vorher da, wenn die berühmten Entdecker nach Columbus mühsam ihren Weg gefunden hatten? Vielleicht sind die Fußreisenden die Igel eines jahrhundertealten Wettlaufs. Fußreisende suchen Erfahrung, nicht Erfolg. Sie leben ihren endlosen Traum zwischen Neugier und Angst . Was hält die Welt bereit, hinter dem Hügel, dort im Wald, unten im Fluß? Raum und Zeit werden spürbar, im Rhythmus eine dem Menschen gemäße Geschwindigkeit gefunden, die Bedingungen des Lebens direkt empfunden, das Reisen als eine conditio humana erlebt.

Der Mensch ist nicht nur ein reisendes, sondern auch ein soziales Wesen; er braucht die Gemeinschaft. Fußreisende bewegen sich aus der Gemeinschaft heraus und müssen das besonders legitimieren. Weshalb reisen, wenn es zu nichts nütze scheint, Zeit vergeuden? Für Seßhafte war es immer schon anrüchig, nicht-seßhaft zu sein:

Abdecker, Akrobaten, Athleten, Bacchanten, Bettler, Deserteure, Diebe, 
fahrende Schüler und Studenten, Gauner, Glückshafener, Hausierer, Heiden, Henker, 
Huren, Juden, Kesselflicker, Kriegsversehrte, Krüppel, Kunden, Landstreicher, 
Leirer, Lepröse, Misselsüchtige, Polizei- und Gerichtsdiener, Riemenstecher,
Sackpfeifer, Scharfrichter, Schausteller, Scherenschleifer, Schinder, Spielleute, 
Tippelbrüder, Tramps, Trickbetrüger, Vaganten, Vagabunden, Walzbrüder, 
Wanderarbeiter, Wenden, Zigeuner

Die Geschichte der Fußreisen will ich erzählen: Das Wissen darüber ist gering, Phantasie füllt die Lücken. Sie beschreibt nichts geringeres als die Geschichte der Menschheit, seit sich der homo habilis erhob. Zweibeinig weitete sich ihm der Horizont, Perspektiven öffneten sich gehend.

Jäger und Sammler - Immer unterwegs

Die Veränderung des Klimas rang dem afrikanischen Urwald trockene und weite Savannen ab. Südlich der Sahara durchstreiften sie Gruppen von 25-50 Frühmenschen auf der Suche nach Wasser und Nahrung, Tiere jagend, vor Raubtieren flüchtend, immer in Bewegung. Das karge Angebot auf einer Fläche von zwei mal zwei Kilometern ernährte gerade eine Person mit Obst und Wurzeln, Aasresten, erjagtem Fleisch. Ohne Milchviehhaltung wurden ihre Kinder 4-5 Jahre gestillt. Dabei legten sie etwa 5.000 Kilometer zurück, immer im Rhythmus des Gehens, an der Brust der Mutter oder auf ihrem Rücken. Diese Situation prägt das menschliche Verhalten bis heute. Babies schreien nicht, solange sie getragen und etwa fünfzig Mal pro Minute bewegt werden. Dieser Rhythmus läßt sich auch künstlich erzeugen und bewirkt gleiches: nur das liegengebliebene, vergessene Baby schreit - Bewegung ist richtig.

Heute lebende Jäger und Sammler pflegen die Muße – das dürfte früher kaum anders gewesen sein. Mit wöchentlich etwa 20 Stunden Jagd- und Sammelarbeit sichern viele dieser Ethnien ihren Alltag. Ein Territorium wird verlassen, sobald der Aufwand zur Nahrungsbeschaffung zu hoch wird - lange bevor ein Gebiet ausgebeutet ist. Weshalb sollten frühere Jäger und Sammler leistungsbewußter gewesen sein? Reisen hieß, einen Aufwand zur Ortsveränderung zu betreiben, um den Aufwand zum Lebensunterhalt zu minimieren. Ein Kampf ums Dasein war nur selten nötig.

Bei einer Auswertung der Felsbilder von Südafrika und Namibia wurden auch die »Objekte« ausgewertet, also weder Mensch noch Tier noch geometrische Symbolik. In dieser Klasse überwogen hinsichtlich der Anzahl Ausrüstungsgegenstände fürs Jagen und Sammeln: Pfeil und Bogen (mit Köcher), Tasche, Kleidung (Vorderschutz), Grabstock und Instrument 1).

Das geruhsame Wandern in sich langsam verlagernden Territorien war kaum jemals eine richtige Reise, Ziele lagen meist nah. Es mag 80.000 Jahre gedauert haben, bis „moderne“ Menschen den Weg von Afrika nach Amerika über Land zurückgelegt haben, der mit vielfachen Kreuz- und Querwegen vielleicht 40.000 Kilometer betrug. Die „Eroberung“ der Erde erfolgte jedenfalls zu Fuß. Sprachvergleiche, Gen- und Mitochondrienanalysen führen allesamt zu ähnlichen Ergebnissen: eine kleine Gruppe verließ vor etwa 100.000 Jahren Afrika über die Landenge von Suez, von Vorderasien gelangten Menschen schon früh nach Europa, vor 40.000 Jahren wurde Australien erreicht, Amerika in verschiedenen Wellen vor etwa 10-20.000 Jahren, vereinzelt vor 30 bis 40.000 Jahren. Die langsame Wanderung täuscht durch ihre Durchschnittlichkeit, da auf Perioden schneller Wanderung, bedingt durch Bevölkerungsdruck, klimatische und geographische Gelegenheiten, Perioden der Stagnation folgten, bedingt durch eine günstige Umwelt. Warum eine Gegend verlassen, in der es alles gibt?

Die frühen Wanderer schätzten sichere Wege: entlang der Flüsse, in Klimazonen mit regelmäßigen Regenfällen und nicht zu kalten Wintern, mit Rückzugsmöglichkeiten in Höhlen oder auf Bäume. Wüsten, Gebirge, vereiste Gegenden erforderten einen hohen Aufwand: Kleidung, Transportmittel für Wasser und Lebensmittel , die Technik des Feuermachens, Schutz gegen Kälte und Sturm waren nötig. Der Druck zur Wanderung mußte schon außergewöhnlich stark sein, um sich solchen Bedingungen auszusetzen. Zogen sich einzelne Gruppen in Nischen, in Täler, auf Almen, auf Inseln, in Oasen zurück, riskierten sie ihre Existenz. Ein einziges kaltes Jahr, ein einzige ausgefallene Regenzeit bedeutete ihr Ende. Der Abstand zu anderen Gruppen durfte nie zu groß werden: wer zu schnell war, begab sich in die soziale Isolation, förderte Krankheit durch Inzucht. Das erforderte den Kontakt zu weiteren 20-30 Gruppen.

Der Bote

Ein früher Einzelreisender war der Bote, denn sicher tauschten umherziehenden Gruppen Nachrichten aus. Im Götterboten * Hermes ist die Bedeutung dieser Funktion gespeichert. Die feste soziale Bindung an die Kleingruppe und eine lockere Bindung an eine größere Gemeinschaft ist ein Kennzeichen der frühen Fußreisen. Das Problem der Zugehörigkeit wurde durch das Bekenntnis zu einem gemeinsamen Ahnen gelöst. Mit dem Namen eines gemeinsamen Ahnen bewies man die Zugehörigkeit zum selben Stamm. Dieser Ahne konnte abstrakt sein, dennoch diente er über lange Zeiträume als Identitätsmerkmal. Erst die Seßhaften ersetzten dies durch eine geographisch definierte Heimat, einen Ort, ein Volk, eine Nation.

Dieser Zustand beschreibt 99% der kulturgeschichtlichen Vorzeit, noch um Christi Geburt lebte 50 % der Menschheit als Jäger und Sammler:

»... die einzelnen Stämme [verließen] leicht ihre Sitze unter dem Druck 
der jeweiligen Übermacht. Denn da noch kein Handel war und kein gefahrloser Verkehr 
weder über das Meer noch auf dem Land, da alle ihre Gebiete nur nutzten, 
um gerade davon zu leben, und keinen Überschuß hatten, auch keine Bäume pflanzten 
bei der Ungewißheit ... und da sie die nötige Nahrung für den Tag überall 
gewinnen zu können meinten, so fiel es ihnen nicht schwer, auszuwandern ...«
''Thukidides'', ca. 5. Jh. v. Chr., zit. nach Leed

Nomaden - Die Weiden sind das Ziel

Wandernden Sammlern mag es eines Tages, vielleicht vor der Durchquerung einer ausgedehnten kargen Gegend, zweckmäßig erschienen sein, sich lebende Nahrung mitzunehmen, vermutlich wildlebende Ziegen- oder Schafsarten. Sie waren genügsam, boten wohlschmeckendes Fleisch, gaben Milch und Wolle, vermehrten sich von allein, ließen sich einfach hüten und führen. Sobald dem Wanderer die Tiere mehr bedeuteten als Nahrungsmittel auf eigenen Beinen, maß er ihnen einen dauerhaften Wert zu: sie wurden zu Kapital, Prestige, Altersvorsorge. Darin zeigt sich erstmals Sorge um die Zukunft, Sicherheitsdenken, langfristige Planung und Eigentum. Der wandernde Nomade gab etwas auf von der Freiheit eines Jägers und Sammlers und trug fortan Sorge auch für sein Vieh. Sein Lebensziel änderte sich: die Bedürfnisse der Tiere bestimmten künftig seine Wanderungen: Wasser, Nahrung, Klima mußten den Tieren zuträglich sein. Der Begriff Nomade lebt unter dem Naturgesetz, nomos, es beherrscht sein Weideland.

Unwissentlich war ein erster Schritt zur Seßhaftwerdung getan - Viehwirtschaft betrieben, Güter produziert: Fleisch, Milch, Käse, Joghurt, Kefir, Leder, Felle, Haare, Hörner, Knochen. Wenn Nomaden ihren Herden Wert zumessen, und das tun sie bis heute, wird ein Wachstum der Herden angestrebt. Die Güterproduktion übersteigt den Bedarf der Sippe. Unvorstellbar, die Güter wegzuwerfen, nachdem sie Jahrzehntausende einen immensen Wert darstellten. Bei Jägern und Sammlern gab es kein Eigentum: Reichtum wurde geteilt oder vernichtet. Doch Nomadentum ist unvereinbar mit der Anhäufung von Besitz, Überschuß muß getauscht oder verkauft werden. Geld kommt von Geltung und ist sprachverwandt mit Zahlung, Opfer, Vieh.

Der fahrende Händler

Ein erster Beruf entstand: der fahrende Händler. Er bedurfte eines ortsfesten Warenlagers, eines Handelsplatzes. Dafür boten sich Treffpunkte der Nomaden an, dort, wo diese sich schon bisher einmal jährlich zusammengefunden hatten, zum Waren- und Informationsaustausch, zur Anbahnung von Lebensgemeinschaften, zur Durchführung von Ritualen, zum Fasten und Feiern. Fruchtbare Orte mußten es sein, mit genügend Wasser und Weiden für alle Herden und Nomaden. Mekka und Jerusalem waren solche Orte, entstanden aus Wegeskreuzungen, hier liefen die Wege zusammen. Während des heißen und trockenen Augustes wurde immer schon gerastet. Als Fastenmonat wurde er zum Ramadan. In jahreszeitlicher Folge werden Weide- und Ritualplätze immer wieder aufgesucht, Orte verbinden sich mit Jahreszeiten, Entfernungen werden in Tagesreisen gemessen, bestimmte Monate auf bestimmten Routen verbracht. Die Rundreise war immer schon bedeutender als die Auswanderung ins Unbekannte. Die ältesten Steinbauten der Menschheit in Göbekli Tepe wurden von Nomaden erbaut.

Die Hexe auf dem Zaun

Die seßhaften Hirten bauten Zäune als Grenze zwischen Zivilisation und Wildnis, zwischen Mein und Dein. Die Hexe Hagazussa sitzt auf dem Zaun: ein Bein in der Wildnis, eines in der Zivilisation. Erfolglos waren die Versuche der Inquisition, sie in die Wildnis zurückzutreiben. Unsere heutigen Reisen sind Versuche, zurück in die Wildnis zu gelangen, doch können wir den Zaun nicht mehr verlassen. Reisen ist nur noch eine schwache Referenz vor dem Wilden in uns, im Tourismus pervertiert. Kennzeichneten Verzicht und Bedürfnislosigkeit den nomadisierenden Menschen, so lebt der Tourist gerade das Gegenteil: Man gönnt sich ja sonst nichts! Verzicht und Reisen sind Gegensätze geworden. Wer reist, kauft Sicherheit, Risiko läßt sich einklagen. Wir können nicht mehr unschuldig reisen wie unsere Ahnen. Der frühe Mensch suchte das Andere, das Fremde, der Reisende zwischen den Seßhaften wurde zum Anderen und Fremden, fast überall. Der Mensch ist auf sich selbst zurückgeworfen.

Den Zaun zwischen Wildnis und Zivilisation findet man in jedem Menschen: gebildet durch Neugier als Trieb in die Ferne mit der Möglichkeit, die Lebensumstände zu verbessern, und durch die Angst vor dem Unbekannten, um das Vertraute zu sichern. Angst erzeugt die Ungeheuer unserer Phantasie, Neugier ermutigt zur Begegnung mit der Wirklichkeit. Beide zusammen ließen Geschichten, Sagen, Märchen, Archetypen, Poesie und Musik entstehen, aber auch Wissen, Organisation, Magie. Heutige Wissenschaft stellt Einzelwissen in ursächliche Zusammenhänge, Schamanen begnügten sich damit, Wissen in poetische und spirituelle Zusammenhänge zu stellen. Der von den Kelten am höchsten verehrte Gott war Merkur: Beschützer der Reisenden, Erfinder aller Künste, Meister der Dichter, Förderer des Handels. Als Hermes ist er Bote der Götter, Flügel beschleunigen seinen Schritt.

Der Zaun markiert eine Grenze, ist Einfriedung: der römische Limes, die Grenze zu den Barbaren, bezeichnete Straße und Grenze, sah darin keinen Unterschied. Eine Grenze zu überschreiten, war immer schon riskant und die Seßhaften verlagerten die Grenze, den Zaun zur Wildnis, auf ihre Türschwelle, heilig, wie vordem die Straße. Wer sie ungefragt übertritt, provozierte Gewalt. Romulus gründete Rom, indem er einen Kreis pflügte, und erschlug Remus, der diese Grenze übertrat. Die ersten Bewohner Roms waren Schäfer, Verbannte und Vagabunden – alles Fußreisende.

Straßen sollen die schnellste Verbindung zwischen zwei Punkten sein – aber der frühe Fußreisende hat nur einen Punkt, sich selbst. Einen zweiten Punkt wird findet der Wanderer nur im Traum. Die Straßen der Welt sind nichts anderen als die in die Wirklichkeit geholten Versuche unserer Ahnen, ihre Träume zu leben.Gleichförmiges Reisen bringt innere Ruhe, im Einklang mit der Umwelt, im Rhythmus des eigenen Seins.

„Du kannst nicht auf dem Pfad gehen, bevor du nicht Pfad geworden bist.“ (Buddha)  

Wer sich tief in die Wildnis verirrt, ist diesem Zustand am nächsten - er muß sich verlieren, um seinen Weg gestalten zu können. Der kürzeste Weg in der Wildnis führt durch Schluchten und Wasserläufe, endet an Abbrüchen oder im Sumpf. Der kürzeste Weg ist meist ein kraftraubender, falscher. Den richtigen Weg zu kreieren, das ist die Kunst. Sie erfordert ein tiefes Verständnis der Natur und der eigenen Möglichkeiten. Ein solcher Weg sucht die Höhe, aber nicht den Gipfel, weicht Schwierigkeiten aus. Scheinbar sinnlose Kehren ermöglichen einen steten Gang. Der richtige Weg ist ein Weg der kleinsten Mühen. Die Wege der ersten Fußreisenden bestimmen noch heute die Welt des Menschen: Kreuzungen waren heilig - Wegkreuze wurden bis in die Gegenwart errichtet. Wo sich Wege kreuzten, entstanden Handelsniederlassungen, Dörfer, Städte. Wo niemand ausweichen konnte, entstanden Burgen, wurde Zoll erhoben. Ganze Länder kann beherrschen, wer die ein, zwei wichtigsten Straßen kontrolliert (Afghanistan). Die frühen Fußwege wurden Mensch und Umwelt in einem solchen Maße gerecht, daß sie oftmals kaum verändert bis heute existieren. Hier wurde der Belag ausgewechselt, dort verkürzten Brücken oder Dämme ein Stück, andernorts beseitigte man ein Hindernis. Flußläufe, Furten, Pässe, Quellen, Bodenbeschaffenheit und Höhenunterschiede bestimmten den groben Verlauf. Vier Bernsteinstraßen von zusammen etwa fünftausend Kilometern Länge durchzogen Europa in Nord-Süd-Richtung. Eine Königsstraße verband die Türkei mit Persien, Rasthäuser gab es in etwa 25 Kilometern Abstand, ideal für einen Tagesmarsch, im Gebirge nach 20 Kilometern. In drei Monaten wanderte man um 500 v. Chr. die 2500 Kilometer lange Strecke von Susa nach Ephesos zurück.

Die Reisen der Seßhaften

Dem Händler folgten Helfer, Verpflegung war nötig, Herden mußten am Standort gehalten werden. Obst- und Ackerbau wurden zur Notwendigkeit. Arbeitsteilung war unvermeidlich, Berufe entstanden. Nicht länger hielten familiäre Bande oder ein gemeinsamer Ahne die Gruppe zusammen - gemeinsame und handfeste Interessen traten an ihre Stelle. Die frühen Seßhaften müssen aus Sicht der Nomaden ein asozialer Haufen gewesen sein. Interessenkonflikte erforderten Entscheidungen, Hierarchien entstanden, Gesetze, Gerichtsbarkeit. Mag sein, daß die Seßhaften zweifelten, sich aus dem Paradies verstoßen fühlten. Jedenfalls fällt auf, daß sie die Nomaden vor allem negativ definierten: sie haben keine Häuser, keinen Grundbesitz, bauen keine Bodenfrüchte an und können daher auch kein Brot backen, sie haben keine Regierung, keine festen Bindungen, akzeptieren keine Grenzen, haben weder Tempel, noch Moscheen oder Kirchen, sind wenig religiös und haben kaum Rituale …. Ein Nomade dagegen sieht sich als selbstbestimmt innerhalb seiner Sippe, frei in der Ortswahl, Teilhaber riesiger Territorien, im Besitz von Vieh und Zelt, von Muße und Freizeit …

James Suzman
Sie nannten es Arbeit.
Eine andere Geschichte der Menschheit.
Aus dem Englischen von Karl Heinz Siber
398 S., C. H. Beck München 2021

Scott, James C.
Die Mühlen der Zivilisation.
Eine Tiefengeschichte der frühesten Staaten.
Aus dem Englischen (Against the Grain) von Horst Brühmann
329 S., Suhrkamp Frankfurt am Main 2020
»Unsere Vorfahren wären besser Nomaden geblieben.«

Alle weiteren Motive und Möglichkeiten der Reisen zu Fuß resultieren aus der Seßhaftigkeit. Ist die Bindung an einen Ort für den Nomaden ein Unglück, so wurde der Verlust der Heimat dem Seßhaften Fluch, Schande oder gottgesandtes Schicksal. Heimat ist ortsgebundener Be-sitz im Rahmen fester sozialer, materieller und geographischer Bindungen. Eine folgenschwere Festlegung: Arbeit wird zum Wert an sich, Religion ebenso. Erstere manifestiert sich in der Anhäufung von Besitztümern (Im-mobilien) und im Ansehen achtbarer Berufe, die zweite in Gotteshäusern (dem Turm zu Babel), Statuen (das goldene Kalb) und Bildern (der Islam verbot sie). Die großen monotheistischen Weltreligionen wurzeln im Nomadentum (Buddha, Jesus und Mohammed waren Wanderer), doch die Seßhaften schufen sich einen reich bevölkerten Götterhimmel. Arbeit kompensierte den Verlust an Freiheit, Religiosität die Entfremdung von der Natur. Das eine oder andere in Frage zu stellen hieß, am Vertrag der Seßhaften zu rütteln. Christliche Sekten, die Besitzlosigkeit zur Grundlage des Glaubens machten, verfolgte die Kirche als Ketzer (Katharer). Wer die Arbeit scheut, wird zur sozialen Randfigur, zum Künstler oder Landstreicher. Seßhafte haben nun einmal ausgeprägte Ge-wohn-heiten.

Kain erschlägt Abel, der Bauer den Nomaden. Im Schweiße seines Angesichts, den Rücken gebeugt, die Hände in der Erde sichert der Bauer sein Leben. Der seßhafte Hirte zäunt seine Weiden ein, sein Zelt erstarrt zu festen Mauern, die Siedlung erhält einen Wall. Dörfer und Städte brauchen Wasser und fruchtbares Land. Macht wurde ausgeübt: verfügen über … und besitzen von …, Grenzen gesetzt, Anspruch erhoben, selbst auf Nomaden. Die wurden verdrängt in unfruchtbare Rückzugsgebiete. Der Konflikt wurde unausweichlich. Die Bibel erzählt, daß Nomaden Städte angreifen (Jericho) und die Stadtgründer verfluchen. Noch 1690 beschlossen die wandernden Don-Kosaken die Todesstrafe für jeden, der den Boden bebauen wollte. Kolonialismus hieß fast immer Krieg mit Nomadenvölkern. Und heute? Die Tuareg in Mali, die Polisario in Mauretanien wehren sich mit der Waffe gegen Grenzziehungen.

Zeit wurde kostbar, Reisen schien gefährlich, erodierte Bindungen – Warum die mehrfach gesicherten Grenzen von Heim, Haus, Hof, Dorf und Land aufgeben, vertraute Bindungen lösen? Die Fußreise, vordem Bestandteil des Alltags, stand dem Einzelnen nun zur Wahl, konnte Notwendigkeit sein oder Weltanschauung. Existentieller Zwang zu reisen wurde durch den Zwang zur sozialen Legitimation ersetzt. Peinlich genau achteten Seßhafte darauf, daß Reisen sozial begründet und zeitlich begrenzt wurden. Legitim waren die Walz der Handwerksgesellen, der wandernde Krieger, der fahrende Händler, der Pilger. Vereinzelt hielten sich Rituale der nomadischen Kultur: Könige reisten von Pfalz zu Pfalz, Bischöfe von Diözese zu Diözese, Pilger zu den heiligen Stätten.

Pilgerfahrten

Fahrendes Volk

In der Renaissance schrumpft die Welt weiter. Wissen der Antike wurde wiedergefunden, die Sonne in den Mittelpunkt der damaligen Welt gerückt, die Erde zur Kugel. Denker erweiterten den geistigen Horizont, Entdeckungsreisende den geographischen. Gewonnenes Wissen ging auf Kosten von Phantasie und Glauben. Die christliche Vorstellung vom Erdendasein als kurzer Episode, vom Leben als Reise, von Abraham als idealem Pilger, verlor an Bedeutung. Die Vision des ewigen Lebens verblaßte gegenüber den greifbaren Werten diesseitiger Güter. Arbeit schaffte nicht nur Güter, sondern auch jenseitigen Wert. Sinn wurde synonym mit Schein, Glanz, Geld. Sich pilgernd von Überflüssigem befreien? Keine Zeit! Um sicher zu gehen, schickte man Stellvertreterpilger nach Santiago de Compostela, das kostete so viel wie zwei Ochsen. Im 19. Jahrhundert blieb nur noch Spott: „Ach! Da schaun sich traurig an/Pilgerin und Pilgersmann.“ (W. Busch).

Paradoxerweise wurde die Epoche zum Zeitalter der Entdecker und Erforscher hochgejubelt. Doch längst war die Welt zu Fuß entdeckt, viel gründlicher als „Eroberer“ das vermochten. Es ging vielmehr darum, das Wissen über die Wege rund um den Globus zu nutzen – nicht die Welt wurde entdeckt, sondern Kunden, nicht Länder wurden erobert, sondern Märkte. Nach der Seßhaftwerdung war dies die zweite Hinwendung zum Materialismus.

Gastfreundschaft und Herberge verlangen Gegenseitigkeit. Der Gast muß sich ausweisen, und sei es durch das bloße Wort: Wie heißt er? Woher kommt er? Was ist sein Ziel, der Zweck der Reise? Dafür erhält er Gastrecht: Essen, Trinken, Obdach, Auskunft über den Weg. Mißbrauch gibt es auf beiden Seiten, doch ist er nicht die Regel. Eine Steigerung erfuhr das Gastrecht innerhalb informeller Gruppen: Juden boten Glaubensbrüdern Unterkunft, Meister den wandernden Gesellen, Klöster standen allen offen, Spitäler und Hospitale den Pilgern. Die Hauptmahlzeit war üblicherweise abends (wenn es denn etwas gab) - das französische Diner bedeutete ursprünglich „entfasten“: zum Abend das erste Essen des Tages einnehmen. Diese Tageseinteilung findet man noch heute bei Nomaden in arabischen und afrikanischen Ländern. Selbst Brot war nicht immer selbstverständlich, schließlich setzt es einen Backofen und Brennmaterial voraus. Üblich war roher oder gekochter Getreidebrei. Das Wort „Kumpan“ entstand aus „conpagn“: Der Begleiter, mit dem ich mein Brot teile.
Ein Fußwanderer geht kaum langsamer als drei, kaum schneller als sieben Stundenkilometer. Eine Tagesstrecke von 25 Kilometern ist unter normalen Umständen problemlos, bei guten Wetter- und Straßenverhältnissen, bei entsprechender Kondition sind auch 70 Tageskilometer zu schaffen. Schlamm, Regen, Schnee, Eis verzögern das Tempo ebenso wie Flußüberquerungen, Täler, Berge, Unterholz, Sandboden. Orientierungspausen und Umwege kosten viel Zeit, Unterkunft, Proviant, Trinken müssen organisiert, Schuhe geflickt werden. Erholungstage sind nötig, Krankheiten fesseln ans Bett, Zöllner machen Schwierigkeiten …. Der Probleme gibt es reichlich. Eine Strecke von 1500 Kilometern bedurfte etwa zweier Monate für einen Fußreisenden.
Jahrzehntausende lang gab es keine Alternativen. Ein erstes Verkehrsmittel war das Tragetuch für die Kinder, das zweite die nachgezogene Astgabel, beladen mit Lasten, Alten, Schwachen. Daraus mag die getragene Sänfte entstanden sein. Das Tragen von „Häuptlingen“ verlangt Hierarchien, die es unter Nomaden kaum in solchem Maße gab. Wo immer möglich, folgten frühe Routen den Flüssen. Wenn Sümpfe, Überschwemmungsgebiete und Auen das Verlassen des Flußlaufs erforderten, könnten treibende Baumstämme, Flöße und Einbäume (Dug-outs) flußabwärts das Reisen erleichtert haben, waren aber mit hohem Risiko verbunden: Wo kam die nächste Stromschnelle? Wer konnte schwimmen im Fall des Kenterns? Zur Flußüberquerung waren sie sicher ein geeignetes Mittel. Auch der Beruf des Fährmanns dürfte zu den ersten Berufen gezählt haben, wurde vielleicht noch vor den Zeiten der Seßhaftwerdung auf den Routen der Nomaden von Ausgestoßenen ausgeübt und erlangte mythologische Bedeutung (Christophorus). Das Reisen mit dem Esel gibt es seit dem dritten Jahrtausend vor Christus, das Kamel wurde erst tausend Jahre später genutzt, zu Pferd ritt man seit etwa 1000 v. Chr. – weil es Vorteile im Kampf bot. Der Mythos des Kentauren entstand. Erste Streit- und Reisewagen tauchten in der Antike auf, erforderten aber geeignete Straßen und eine gute Infrastruktur, die im Mittelalter zusehends verfiel. Erst im 11. Jahrhundert n. Chr. dienten Wagen wieder dem Reisen und dann zunächst für Verbrecher, für Kranke, Frauen, Alte.

Auf der Walz

»Schon in der frühesten Jugendzeit war mein sehnlichster Wunsch, zu reisen.
Nicht per Bahn oder per Schiff, nein, auf Schusters Rappen wollte ich 
die Welt durchwandern. Durch meiner Hände Arbeit wollte ich mir mein Brot 
verdienen. Abwechselnd arbeiten und weiterziehen war mein Vorhaben. 
Darum erlernte ich auch das Handwerk, das mir, obgleich meinen Wünschen 
nicht ganz entsprechend, zum Wandern am vortrefflichsten schien: 
ich wurde Friseur, oder, wie es unter Walzbrüdern heißt, 
Doktor der Schaumschlägerkunst.«
''Franz Heinrichs'' 1896

Die Zünfte des ausgehenden Mittelalters modernisierten das wirtschaftliche Leben in den wachsenden Städten und schufen neuen sozialen Halt. Zunft kommt von ziemen – Sicherheit und Geborgenheit waren mit Disziplin und Gehorsam gegenüber den strengen Zunftregeln zu bezahlen. Die Zunft bot Ehrbarkeit, Außenstehende blieben ohne Ehre, unehrlich: Fahrende, Schausteller, Bader, Scharfrichter, Abdecker …
Der Zwang, zwischen Ausbildung und Meisterprüfung zu wandern, bewegte nicht nur den Arbeitsmarkt, transportierte nicht nur Wissen und Know-How. Die Walz prüfte auch das Verhältnis des Einzelnen zur Gemeinschaft. Sie war die letzte Möglichkeit, die Welt kennenzulernen, dem Wandertrieb und dem Fernweh nachzugeben, zu entscheiden zwischen Seßhaftigkeit und Nomadentum, Zugehörigkeit und Ausgestoßensein. Wer sich danach niederließ, wußte, was er wollte. In den drei bis sechs Jahren der Walz durften sie nicht länger als etwa drei Monate an einem Ort verweilen. Walz bedeutete auch »wälzen, rollen, sich bewegen«.

August Winnig, Schriftsteller und Maurer auf Wanderschaft sieht das so:

»Die Wanderschaft war vom Menschen her gesehen eine Probe seines Mutes und 
seines Selbstvertrauens. An jeden jungen Gesellen war mit der Wanderschaft 
die Frage gestellt, ob er den Mut hatte, auf den Rückhalt der Heimat zu verzichten, 
auf die Behütung und Sicherung im Elternhause, auf Rücksicht und Beistand, 
wie die heimatlichen Verbundenheiten sie gaben, und ohne jeden Rückhalt, 
ohne Behütung und ohne Schonung zu leben. Denn das hieß Fremde. 
Die Fremde war grundsätzlich nur Verneinung der Heimat. Wer in die Fremde ging .... 
mußte alles, was er an Hilfsbereitschaft, Freundschaft und Wärme brauchte, 
neu erwerben. ... und wurde er mit der Fremde fertig, so kam er mit Kräften zurück, 
die er vorher nicht gehabt hatte und die ihn nicht nur im Beruf 
über die Daheimgebliebenen hinaushoben. 
Es war der Sinn der Fremde, daß man sie annahm und verstand.«

Die Walzgesellen erkannten einander in der Schar der Reisenden: Im »Berliner«, einem Schnürbeutel aus schwarzem Wachstuch mit schwarzgrünen Tragegurten, oder dem Felleisen (lateinisch-italienisch valisa), einer Gepäckrolle aus Leder, steckten die wenigen Habseligkeiten. Ihre Kleidung konnte die Zunftzugehörigkeit ausdrücken, Werkzeug wurde oft sichtbar getragen, und wie die Meister trugen sie im Mittelalter eine Wehr. Fachliches Wissen, Spracheigentümlichkeiten und festgelegte Riten mit bestimmten Fragen und Antworten waren die Eintrittskarte zu Gesellenhäusern und Gesellenverbänden überall im deutschen Sprachraum. Schilder mit Gewerksymbolen zeigten die Herbergen für Maurer, Zimmerer, Schneider, Sattler an. Wer eintrat, mußte die Regeln kennen: »Die Tür zur Herberge stand offen, aber das hielt mich nicht ab, nach Vorschrift zu klopfen, nämlich dreimal; nach dem ersten Schlag gehört sich eine kleine Pause, der dritte aber folgt schnell auf den zweiten.« Der Wirt in seiner blauen Schürze begrüßt August Winnig: »Mit Gunst und Erlaubnis!«

Die machtvolle Zeit der Zünfte war spätestens nach dem Dreißigjährigen Krieg vorbei — Armut und Hunger trieben eher mehr Gesellen zur Walz, erst nach der Biedermeierzeit sah man sie seltener. 1839 öffnete der türkische Sultan Mahmehd II. die Grenzen für westliche Besucher; seither reisten die Gesellen vermehrt in den Nahen Osten. Der Wunsch, zu pilgern, und der Glaube, durch Gott beschützt zu wandern, verbanden sich mit der Idee der Walz. In Jerusalem ließ das preußische Konsulat eine eigene Gesellenherberge errichten, etwa 25 protestantische Gesellen suchten Jerusalem jährlich auf.

Daß die Walz aus ihrer Zeit geriet, dachte sich schon Franz Heinrichs, ein Friseurgeselle, der 1896 zu Fuß nach Jerusalem aufbrach. 15.000 Kilometer wanderte er in 455 Reisetagen, mit großem Gepäck (20-40 kg), durchschnittlich mehr als 30 Kilometern pro Tag. Alte Zeiten prägen seine Vorstellung:

»Den derben Knotenstock in der Hand und das Ränzel auf dem Rücken, 
wurde die Welt durchkreuzt. Frohgemut ging es von Stadt zu Stadt, 
von Ort zu Ort; bald allein, bald in Gesellschaft von mehreren lustigen Brüdern.«

Dennoch sieht er die Gegentendenzen:

»Schnellfahrende Eisenbahnen haben das poesievolle Wanderleben verdrängt.
Im Zeitalter des Treibriemens und Rädergerassels geht das Sehnen und 
Trachten so manchen jungen Mannes
nicht mehr hinüber nach den Städten unbekannter Länder, wo ihm 
Gelegenheit geboten würde, sein Fach zu vervollkommnen. … 
Nur Geld erwerben und wiederum erwerben ist sein steter Gedanke,
unbekümmert um das, was über die Heimatscholle hinausreicht. …  
Und wie oft gelingt es nicht leider jenen frivolen Brüdern, 
deren einziger Wahlspruch Betteln und Stehlen, aber nur nicht arbeiten heißt, 
den biedern und guten Handwerksburschen die Lust am Wandern zu nehmen.«

Vereinzelt wandern noch heute Handwerksgesellen mit Ehrbarkeit (Halsbinde), Staude (Hemd), Schlapphut, Stenz (Stab) und schwarzen Kordhosen. Man bestaunt diese Exoten in einer technisierten, profitorientierten Welt Sie tragen immer noch den Berliner mit Rasierpinsel, Unterwäsche, Schuhputzzeug, Hammer, Lot und Wasserwaage und scheniegeln (arbeiten) bei Krautern (zunftlose Handwerker). Etwa 3000 organisierte Gesellen gab es 1985: sie dürfen keine dreißig Jahre alt sein, weder verheiratet noch vorbestraft, dürfen keine Schulden haben, sollen charakterfest im Umgang mit Alkohol sein. In einer europäischen Gesellenzunft, der »Confédération Compagnonnages«, haben sie sich organisiert.

Ausstellungsliste Vagabunden & Walz
Künstlerreisen
Literaturliste Fahrendes Volk
Gesellenwanderung
Die Kluft wandernder Handwerksgesellen
Die Ritter der Landstraße
Auf der Walz
Wanderarbeiter
Wanderbursche

Straße als Ghetto

Die Straßen glichen zeitweise einem Jahrmarkt oder einem Tollhaus. Die Scharen der Wandernden machten jahrhundertelang etwa 10% der Bevölkerung aus, in Zeiten des Krieges, der Krankheiten, der Hungersnöte sollen bis zu 30% der Bevölkerung auf den Straßen unterwegs gewesen sein. Berufsmäßig Reisende (fahrende Schüler und Studenten, Schausteller, Akrobaten, Spielleute, Hausierer, Wanderarbeiter, Scherenschleifer, Kesselflicker …) hatten einen zweifelhaften Ruf. Sogenannte „unehrliche“ Berufe wurden umherziehend ausgeübt (Scharfrichter, Henker, Polizei- und Gerichtsdiener, Schinder, Abdecker, Bettelvogt …). Ausgestoßene mußten reisen, man verwehrte ihnen den festen Wohnsitz (Bettler, Vagabunden, Gauner, Landstreicher, Huren, Diebe, Trickbetrüger, Leirer, Sackpfeifer, Riemenstecher, Glückshafener, Deserteure …). Weitere Gruppen galten von Geburt an als außenstehend (Juden, Zigeuner, Türken, Heiden, Wenden). Auch für Kranke (Kriegsversehrte, Krüppel, Lepröse, Misselsüchtige …) blieb oft nur der Weg auf die Straße.

Städte und Dörfer versuchten sich vor den Wandernden zu schützen: Bestenfalls gab es Handlungspatente für Hausierer, Bettelerlaubnisse und aufsichtführende Bettelvögte, Arbeitsanstalten und Zwangsarbeit, Leprosien für Kranke. Unerwünschte wurden abgeschoben, in Schubkarren zum nächsten Ort gefahren, wenn sie nicht laufen konnten. Wer zurückkam, riskierte Pranger, Verstümmelung, Brandmarken. Kleine Vergehen wurden mit unverhältnismäßig hohen Haftstrafen gesühnt, oft die Todesstrafe verhängt.„Auswärtige Bettler, Landstreicher und anderes liederliches Gesindel sollen diese Lande bei Strafe des Karrenschiebens oder anderer Strafe meiden.“ verkündete das Herzogtum Braunschweig an seinen Grenzen.

Wer einmal auf der Straße war, blieb dort. Man lehrte einander das Überleben und grenzte sich ab: Zinken informierten über Seßhafte, über örtliche Chancen und Gefahren, das Rotwelsche war dem braven Bürger unverständlich. Betteln wurde als Kunst betrieben, Rollen exakt gespielt. Hausierer verkauften Fliegenwedel, Nähzeug, Nägel, Stoffe, Holzlöffel, Körbe; polnische und rumänische Bärenführer, Musikanten, Artisten, Puppenspieler führten ihre Kunststücke vor, Quacksalber, Wunderdoktoren, Steinschneider und Urinbeschauer gaben vor zu heilen. Doch das Fahrende Volk war nicht einfach nur Opfer. Mit der Hierarchie der Seßhaften, der Größe der Städte wuchs der Reiz der Straße als Gegenentwurf zur bestehenden Ordnung, nomadenhafter Trieb wurde ins Asoziale ausgegrenzt. Wer das Reisen als Lebensform suchte, mußte sich im Fahrenden Volk eine Nische suchen. Tiefer hinab ging es nimmer.

Auch die legitime Reise wirkt anarchisch: Hierarchien verfallen, Anerkennung, Herkunft, Besitz wird nahezu bedeutungslos. Der Aufwand, Besitz zu behalten, steigt auf Reisen enorm. Dafür gewinnt die Gemeinsamkeit des Weges, des Zieles, der Umstände an Bedeutung und wird wichtiger als soziale Differenzen. Reisende Kleingruppen, Reisegefährten waren stillschweigend oder durch Schwur (Eidgenossen) miteinander verbunden, bis sie ihr nächstes Ziel erreichten. Einem Anführer fielen Macht und Ansehen durch Wissen oder praktisches Geschick zu: den Weg zu finden, Essen und Trinken zu besorgen, eine Unterkunft zu organisieren, kurz: Schwierigkeiten zu minimieren. Er übernahm Aufgaben, die heute dem Reisebüro oder Reiseführer eignen. Macht und Anerkennung beruhte auf Akzeptanz der personalen und sachlichen Autorität des Anführers, eine fixe hierarchische Autorität wurde nicht akzeptiert. Seine Kompetenz erwies sich durch Erfolg und in ständiger Kommunikation, die seine Glaubwürdigkeit stützte, sowie im Eingehen auf andere Meinungen, die in Initiative und Entscheidungsfreude mündete.

Wandern - Die kultivierte Fußreise

»Wer hat euch Wandervögeln
Die Wissenschaft geschenkt
Daß ihr auf Land und Meeren
Nie falsch den Flügel lenkt
Daß ihr die alte Palme
Im Süden wieder wählt
Daß ihr die alten Linden
Im Norden nicht verfehlt.« 

Diese Grabinschrift auf dem Friedhof Berlin-Dahlem soll den wanderbegeisterten Jugendlichen in den 1890er Jahren den Namen »Wandervögel« eingebracht haben. Damals wurde das Wandern zur Mode, ein langer wirtschaftlicher Aufschwung brachte die nötige Leichtigkeit. Der Hamburger Bildhauer Alfred Pfarre sinniert 1912, nach vierwöchiger Ferienfahrt durch die Rhön und den Thüringer Wald:

»Ihr habt eine Ferienfahrt gemacht als sorglose Wandervögel, 
nun kommt deine Reise als Handwerksbursche, 
vielleicht bald als Landstreicher. ... 
Beginne nun endlich deine Fahrt und wage mutig 
den bedeutsamen Schritt vom Wandervogel zum Handwerksburschen.«

Die Polizei beobachtet und kontrolliert die Handwerksburschen, das weiß Mathias Ludwig Schroeder genau: »Auf eine Fleppenkontrolle darf ich es nicht ankommen lassen, sonst bin ich verratzt, denn ich habe bereits zwei Nächte auf eigene Faust, ohne Aufenthaltsstempel, im Heu geschlafen.« Aufenthaltsstempel in Herbergen, Asylen, Arbeitsnachweise oder der Stempel: »Inhaber hat sich heute vergeblich um Arbeit bemüht« helfen der Polizei, Gesellen von Vagabunden zu unterscheiden, denn äußerlich gleichen sie sich. Sie sind arm, zu Fuß unterwegs und bemühen sich Tag für Tag um Essen und ein Bett. Sie haben Zeit, doch selten Arbeit und lassen sich das Betteln nicht verbieten. Noch unter den Heimatlosen gab es Hierarchien: »Der Speckjäger ist ein Ausbeuter der Verkommenen; ein Organisator der Bettler und Simulanten; der Wucherer des Asyls …« Der König der Vagabunden, Gregor Gog, nennt in Trappmanns Buch »Landstraße, Kunden, Vagabunden« den Landstreicher

»einen Menschen, der sinnlos umherzieht, für den das Herumtreiben 
eine besondere Art Trunksucht ist, was manche Forscher sogar veranlaßt, 
von einem Atavismus der Instinkte aus der Nomadenzeit der Menschheit zu sprechen.
… Und es ist so leicht, auf die Landstraße zu gehen. 
Man tritt aus seiner Wohnung und wandert. 
Aber wie kommt man von der Landstraße wieder ab? 
Wenn man keine Arbeit findet, wenn man kein Zuhause mehr hat? ... 
Jeder hier hat etwas Rauhes und Hartes an sich, 
doch keinem ist der Grimm angeboren; alles ist aufgelegt,
aufgesetzt, von der Landstraße, von dem Elend, das sie umgibt.«

1927 waren 70.000 Menschen auf den Straßen Deutschlands unterwegs, sechs Jahre später sind es 450.000, ein Hinweis auf die wachsende Unsicherheit, meint Trappmann:

»Die Auflösung der auf materielle Sicherheit gegründeten bürgerlichen Ordnung 
und die Lockerung aller bisher gültigen moralischen Begriffe ließen ... 
ein Lebensgefühl entstehen, das den Unbehausten, den Grenzgängern, Abenteurern 
und Vagabunden, auch bei den Intellektuellen, eine kaum mehr 
vorstellbare Popularität verschaffte. Jack London und B. Traven erzielten Massenauflagen. 
Der Tramp Charlie Chaplin, melancholischer Verlierer und Angreifer zugleich, 
wurde zum enthusiastisch gefeierten Volkshelden. Wanderstab und Bettelsack 
waren die romantische Verkleidung des erschütterten bürgerlichen Lebensgefühls, 
aber auch Symbol für Hoffnung und Widerstand.« 

Karl Raichle, Theodor Plievier, Gregor Gog trafen sich nach dem Ersten Weltkrieg in Urach am Rande der schwäbischen Alb: »das schon vor dem Krieg ein Treffpunkt für Wanderprediger und Tippelbrüder, Lebensreformer und Naturapostel war und sich nach 1918 zum süddeutschen Zentrum der lebensreformerischen Bestrebungen entwickelte,« sagt Trappmann. Die drei bildeten den Matrosenkreis: »im Ahasver, im ewigen Juden erkannte man sich wieder. Gottsucher waren sie, namenlose Männer des dämmernden Morgens, wie Plievier 1919 in einer Selbstanzeige des neugegründeten Verlages der Zwölf schrieb.«

Eine Zeitschrift für Kunden und Vagabunden

Gustav Brügel, Landstreicher und Schriftsteller aus Balingen bei Stuttgart, gab 1927 die erste Zeitschrift der Vagabunden, den »Kunden«, heraus; Gregor Gog übernahm nach der ersten Nummer und gründete die »Bruderschaft der Vagabunden«. Pfarrer, Dichter, Anarchisten, Maler, Träumer und Wanderprediger, Jugendbewegte und Asoziale gingen auf die Landstraße, im Kontakte mit den Berliner »Anarcho-Syndikalisten« und der »Gilde freiheitlicher Bücherfreunde«.

Kunden waren sie alle. Der altniederrheinische cunde war ein Späher und Kundschafter, er wußte mehr als andere. Begegnete man sich auf der Straße, wurde auf die Frage »Kunde?« geantwortet mit »Ken Mathes?« Nicht der Mathias ist gemeint, sondern die »Medine« (Landstraße) und bedeutet so: »Ich kenne die Landstraße«.
1928 fand der erste öffentliche Vagabundenabend in Stuttgart statt, weitere folgten in Berlin, Mannheim, Hamburg, Dortmund. Pfingsten 1929 trafen sich in Stuttgart 600 Vagabunden aus Deutschland, Österreich, Böhmen, Polen, Dänemark, Finnland, Ägypten. 1930 drehte die UFA einen Vagabundenfilm mit Gregor Gog und anderen Vagabunden. Im gleichen Jahr gab es in Deutschland acht Ausstellungen von Vagabundenkünstlern. 1933 wird Gregor Gog verhaftet, kommt in ein Konzentrationslager und flieht Ende 1933 in die Schweiz. Die Bücher der Vagabunden wurden verboten, das gesamte Archiv abtransportiert. Die folgenden zwölf Jahre genügten, um Kultur und Tradition der Vagabunden fast vollständig auszurotten.

Gehen und Wandern

»All sein hab und gut auf den buckel nehmen, nicht andere tragen lassen,
und deshalb … reduzieren und minimieren. … 
gehen lernen, wie es der körper will, stundenlang, tagelang. 
Klug und schlau werden gegenüber hitze und kälte, 
regen und trockenheit, tag und nacht. Man entdeckt das licht, 
die großen stunden des tages und der nacht, das wasser und die furcht …«

Die Freiheit des Gehens in der Wüste entdeckte und beschrieb Otl Aicher in schönen Bildern. Weit über 200 Jahre früher fand der aufklärende Denker Jean-Jacques Rousseau, Genfer und Franzose, in der Natur der Schweizer Bergwelt Weitblick und Raum für freies Denken, für seinen Traum vom erfüllten Leben. Um 1750 erwanderte er sich die Schweiz als vielleicht erster überzeugter Fußwanderer. *Klima und Luft rühmend, Bergwelt und Älpler idealisierend entwarf er 1761 in seiner »La Nouvelle Héloïse« Visionen eines Arkadiens, die nachfolgende Generationen begierig aufnahmen. Die Schweiz mit ihren mühselig zu überschreitenden Pässen, bislang nur Durchreiseland, wurde zum Ziel der Bildungsbürger. Hirten erschienen sorglos, Alpen wurden zu saftigen Matten, Felshänge scheinen schützend bei Caspar David Friedrich, vereint mit malerischen Sturzbächen. Rousseaus »Retournons à la nature!« hallte bis tief in unser Jahrhundert. Wilde Wald- und Berglandschaften erhielten nun romantisierende Beinamen, die Sächsische Schweiz wurde als eine der ersten getauft. Naturgenuß, die Schweiz als Symbol für Freiheit und das Wandern als klassenlose Reiseart – das waren Ideen, die in das Saeculum der Revolutionen paßten. Fußreisen waren ein Affront gegen ständische Überzeugungen, denen rote Wangen bäurisch schienen, weiße Haut als Zeichen besseren Standes galten, frische Luft als schädlich galt und denen es unschicklich war, sich körperlich zu betätigen.

Der gesellschaftskritische Publizist und Pädagoge Afsprung wanderte 1782 durch die Schweiz und schrieb einen radikaldemokratischen Reisebericht, ihm folgten andere Poeten, wie Christoph Meiners, 1784, Gerhard Anton von Halem, 1790, Johann Gottfried Ebel, 1792, Friedrich Leopold von Stolberg, 1794, Johann Wolfgang von Goethe, 1779 und 1797. Der Reisebericht wandelte sich vom politischen zum literarischen Medium, machte die Fußreise zum Topos: so 1797 im »Gestiefelten Kater« von Ludwig Tieck, 1809 in den Wahlverwandtschaften Goethes, 1826 im Taugenichts von Eichendorff, 1835 im Lumpazivagabundus Johann Nestroys und nicht zuletzt in den Müllerliedern Schuberts.

Bedenkt man, daß zu dieser Zeit vielleicht 80% der Deutschen von der Landwirtschaft lebten und preußische Bauern noch als Leibeigene galten, daß in dieser Zeit etwa 10% der Deutschen auf den Landstraßen aus Not vagabundierend umherzogen, so ist das verträumte und romantische Ideal des Taugenichts, sein freies Sich-treiben-lassen eine Chimäre. Der deutsche Weg in eine bessere Welt führte weder in die gesellschaftliche Revolution wie in Frankreich, noch in eine industrielle Revolution wie in England, sondern auf Pegasus’ Flügel in »kleine Fluchten«, in Traum und Transzendenz. Sichtweisen änderten sich: Aussichtstürme entstanden, ein Fernrohr gehörte zur Wanderausrüstung, man suchte den Horizont zu erweitern.

Johann Seumes »Spaziergang nach Syrakus« von 1802 wird gerne als Höhepunkt jener Zeit gesehen und ist doch eigentlich ein Kontrapunkt — Seume ist Realist, kein Romantiker, empfindsam, doch nicht schwärmerisch, wandert nicht aus Mode. Zwei Jahre nach Erscheinen der »Heloise« als Sohn eines verarmten Bauern geboren, ermöglichten ihm Gönner ein theologisches Studium. Das bricht er ab, macht sich auf den Weg nach Paris, und wird gesucht: »Daß ein Student den Tag vorher, ehe er durchgeht, seine Schulden bezahlt, schien ein starker Beweis des Wahnsinns.« Hessische Werber preßten ihn in das für Nordamerika bestimmte Söldnerheer. 1783, nach zwei Jahren Amerika desertierte er. Die Fußreise, zu der er im Dezember 1801 aufbricht, ist ihm etwas Besonderes: »Meine meisten Schicksale lagen in den Verhältnissen meines Lebens; und der letzte Gang nach Sizilien war vielleicht der erste ganz freye Entschluß von einiger Bedeutung.« Im April ist er in Syrakus, besteigt Ätna und Vesuv und wandert über Paris zurück, neun Monate währt die gesamte Tour.

»Ich halte den Gang für das Ehrenvollste und Selbständigste in dem Manne 
und bin der Meinung, daß alles besser gehen würde, wenn man mehr ginge. … 
Fahren zeigt Ohnmacht, Gehen Kraft.«

1802 wanderte Johann Gottfried Seume von Leipzig nach Syrakus, Karl Philipp Moritz schaute wandernd Frankreich und England, Goethe erwanderte sich die Schweiz - wie immer, sind die Dichter ihrer Zeit voraus. Das Erlebnis von Natur wird verknüpft mit bestimmten bürgerlich akzeptierten Sichtweisen (Spitzweg), Aussichtstürme entstehen, man erweitert den eigenen Horizont und das Fernrohr gehört zur Wanderausrüstung. Das Wandern als Fußreise ohne Not und Zwang entsteht als bildungsbürgerliche Freizeitbeschäftigung. Kulturell geschätzt wird sie erst seit der Industrialisierung des Reisens: Raum wird zum Hindernis, Zeit ist Geld, Wahrnehmungen rauschen vorbei. Neue Verkehrsmittel (Eisenbahn, Fahrrad, Auto) und verbesserte Straßen lassen die Fußreise in neuem Licht erscheinen. Gehen als unmittelbarste Form der Bewegung, ohne Vermittlung, in direkter Berührung der Umwelt, in menschgemäßem Tempo und mit ungefilterter Wahrnehmung. Gehen verändert die Wahrnehmung nur gemächlich, Reaktion ist möglich. Sich-gehen-lassen meint, das Denken ausschalten, dem Körper die Wahl der Geschwindigkeit, des Rhythmus überlassend. Wenig romantisch ist die Straße im 19. Jahrhundert allerdings für die Wanderarbeiter, das industrielle Proletariat.

Auf der anderen Seite wurde die Fußreise im Spaziergang kultiviert, doch weicht die freie Natur dem gestalteten Landschaftsgarten, der einsame Wanderer dem geselligen Bürger, die Innenschau dem Sich-Sehen-Lassen. Für die unübersichtlichen Landschaftsgärten erschienen eigene Reiseführer, die Wege zu Sitzgelegenheiten ebenso beschrieben wie Aussichten, Bäume und Sträucher. Man eignete sich Natur an, überraschend durfte sie sein, nicht aber unberechenbar. Sie zu empfinden, setzte Distanz voraus und Bildung, war also den gehobenen Ständen vorbehalten. Die Philanthropen Christian Karl André, Gotthilf Salzmann und Christoph Guthsmuths forderten und entwickelten die Leibeserziehung als kulturelle Tugend, der philanthropische Lehrer und Schriftsteller Karl Philipp Moritz überhöht diese Ideen 1785/86 literarisch in seinem Werk Anton Reiser und bereitet den Weg für Turnvater Jahn.

Reiseführer und Wandervereine

Der gesellschaftlichen Revolution folgte die industrielle. Auch Reisen wurde beschleunigt, die Rousseauschen Ideen verblaßten. Karl Baedeker gab 1839 seinem ersten Reiseführer, einer Rheinreise von Mainz nach Cölln, den Untertitel »Handbuch für Schnellreisende«. Mit der ersten Eisenbahnstrecken in England 1825, in Deutschland 1835 und international 1843 verkleinerte sich die Welt zusehends, wurde für weitere Schichten erschwinglich. 20 Jahre später durchzog ein Schienennetz die Alpen. Wandervereine entstanden — die Eisenbahngesellschaften förderten die Gruppenreise — die Berge rückten näher, der Alpinismus wurde modern. Der erste Alpenverein wurde 1857 in England gegründet, der österreichische 1862, der deutsche 1869. Im Alpinismus wurde die schon etwas schal gewordene Melange aus Freiheit, körperlicher Bewegung und Natur wiedergeboren. Das sportliche Interesse wuchs, der english sportsman war Vorbild. Wieder war es das gehobene Bürgertum, das sich in den Alpenvereinen fand, für Handwerker, Arbeiter und Tagelöhner war kein Platz.

Doch das Proletariat holte auf und genoß einige Jahrzehnte die abgelegten Wandermoden des Bürgertums. Um 1900 wird das Wandern zur Massenbewegung und Ideologie, verbunden mit Körperkultur, Volksliedern und Sagen, eine Wander- und Jugendbewegung entsteht, auch die Arbeiterbewegungen entdecken das Wandern. Die Fußreise erreicht ihren touristischen Höhepunkt. In Wandervereinen zogen Arbeiter am arbeitsfreien Sonntag nach einer 80-Stunden-Woche in die stadtnahe Natur, »soziales Wandern« wurde angestrebt, die Jugend von »Kneipe und Kirmes« ferngehalten, »Reisehandbücher für wandernde Arbeiter« beschrieben detaillierte Strecken. Solche Freizeit war preiswert, erholsam, entspannend. Eine Generation später gründeten Sozialdemokraten 1895 den Arbeiter-Wanderverein »Die Naturfreunde«. Bis 1923 hatte er mit 100.000 Mitglieder zum deutsch-österreichischen Alpenverein aufgeschlossen, 1932 waren in 53 touristischen Wandervereinen 250.000 Mitglieder organisiert.

Jugendherbergen

Der Volksschullehrer Richard Schirrmann sorgte in Altena-Nette ab 1907 für Wanderunterkünfte und schuf 1912 die erste Jugendherberge, der Förderer Dr. Graßl nennt das Ziel:

Ȇberall soll der Wanderer ein sauberes, sicheres Heim vorfinden, 
das ihm das Elternhaus in der Fremde ersetzt … das ihn nicht ausbeutet, 
das ihn vor schlechter Gesellschaft bewahrt …«.

1932 gab es 2124 Jugendherbergen in Deutschland, die Übernachtungszahlen dieses Jahres wurden erst 1951 wieder erreicht, dann aber bis 1955 verdoppelt.
1786 wurde der Montblanc erstmals erstiegen, 1953 der Mount Everest. Die Welt der Berge ist dem Mythos und der Poesie entrungen. Nichts bleibt übrig, das zu erobern wäre. Hier noch eine Nordwand, dort eine letzte Flanke — und dann?

Die Grenzen des Wanderns

Es bleibt der Rückzug auf das menschliche Maß, der Verzicht auf unnötige Technik. Reinhold Messner besteigt alle Achttausender ohne Sauerstofflasche. Michael Holzach durchwandert 1980 mit seinem Hund Feldmann in sechs Monaten Deutschland, ohne Geld von Hamburg über das Ruhrgebiet nach Lindau, München und zurück, aber auch ohne Uhr, ohne Karte. »Hamse wohl was altes Brot übrig?« kommt in Bäckereien immer gut, und dann: »Ich empfinde eine Lebenstüchtigkeit, die kein noch so hohes Einkommen zu vermitteln vermag.« Einige Zeit später springt er in die Emscher, um Feldmann zu retten. Michael Holzach ertrinkt, der Hund erreicht das Ufer.

Wahres Reisen ist freiwillig und beendbar, darf Last sein und Mühe, ist jedoch weder Flucht noch Zwang. Alle Zeitalter boten ihren Ruhe- und Rastlosen legitimierte Wandermöglichkeiten. Reisende fanden ihren Weg zwischen den Polen Natur, Individuum und Gesellschaft: Spirituell Reisende, Pilger insbesondere, nutzen die äußere Reise als Mittel zur Suche nach dem Selbst oder nach Gott. Andere Reisende, Bergsteiger im Besonderen, stellen Geist und Körper auf die Probe, messen ihre Leistung und suchen ihre Grenzen in der Natur. Schließlich grenzen sich sozial Reisende, Wandervögel und Spaziergänger, Gesellen und Arbeiter, Vagabunden und Kunden, durch ihre Reisen ab oder sie zeigen ihre gesellschaftliche Zugehörigkeit.

Der erste Weltkrieg, seine politische Folgen, die Weltwirtschaftskrise und ein weiterer Weltkrieg unterbrachen diese Entwicklung, begrenzten die Möglichkeiten der Fußreise und beendeten Traditionen. Im Gegenteil: Während des Dritten Reiches verbanden sich mittelalterliche Methoden mit moderner Bürokratie. Die Straßen waren wieder voll, aber nicht mit Touristen. Der Krieg gegen das fahrende Volk wurde offensiver geführt denn je: Juden, Zigeuner, Landstreicher, Arbeitslose, Kranke …. mobile Gruppen vielfältiger Herkunft traten ihren oft letzten Gang an: ins KZ, ins Arbeitslager, zur Euthanasie.

Reisen ins Unbekannte dienten als Prüfstein für individuelle und soziale Fähigkeiten. Gilgamesch, Odysseus, Ritter suchten aventiure. Buschmänner und Eskimos ließen Alte und Reiseunfähige zurück. Gilt umgekehrt: Wer reisen kann, ist gesellschaftsfähig? Bei den Nomaden war es eine Strafe allein zu reisen - den Weg nicht zu kennen, dem Schutz der Gruppe zu entsagen. Bei den Seßhaften war es eine Strafe, heimatlos zu sein, dem Reisenden die Rückkehr zu versagen. Der Reisende mußte lernen: bestehende Bindungen aller Art zu lösen, vertrautes Gebiet zu verlassen, die Orientierung zu verlieren und wiederzugewinnen, sich seiner Angst , den selbstgeschaffenen Ungeheuern zu stellen, sich zielorientiert in kleinen Gruppen zu organisieren (Karawane, Reisegruppe), Grenzen zu erkennen und zu akzeptieren, sich selbst kennenzulernen und seine Fähigkeiten einzusetzen, zu improvisieren, wach zu sein in unbekannten sozialen Zusammenhängen, kurzfristig und kurzzeitig Bindungen herzustellen, zu kommunizieren und sich durchzusetzen, unabhängig Entscheidungen zu treffen und schließlich bereit sein, zurückzukehren. Ohne die Bereitschaft zurückzukehren ist der Reisende verloren, Exilist, ewig Wandernder, Ahasverus. Der Verlust der Vertrautheit ist sein sozialer Tod.

Wer zurückkehrt, beweist sich als lebenstüchtig. Wenn dann noch Wissen mitgebracht, Wahrnehmungsweisen geschärft, Fähigkeiten entwickelt wurden, profitiert die ganze Gemeinschaft. Wer aber in der Ferne bleibt, taugt nicht für die Seßhaftigkeit. Für die Zünfte mag die Walz der Prüfstein für seßhafte und zuverlässige Handwerker gewesen sein. Vielleicht ist der heutige Tourismus nichts anderes als der gesellschaftliche Reflex auf den Sinnverlust, eine Flucht in die Bewegung als Relikt ursprünglicher Mobilität?


siehe auch:
* Quellen: Literaturliste zum Fussreisen
* Literaturliste zur Reiseliteratur
* Fachliteratur

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1)
Christina Otto
Die Felsmalereien und -gravierungen des südlichen Afrika
Eine vergleichende Analyse
Leipziger Arbeiten zur Geschichte und Kultur in Afrika Nr. 11, 2006; S. 53, 105-106 - Stab, Speer, Bogen und Musikinstrument sind häufig nicht zu unterscheiden
wiki/fussreisen.1731045530.txt.gz · Zuletzt geändert: 2024/11/08 05:58 von norbert

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