Winfried Breidbach
: Reise - Fahrt - Gang. Nomina der Fortbewegung in den altgermanischen Sprachen. Peter Lang 1994 Diss. KölnDies ist eine alte Version des Dokuments!
Inhaltsverzeichnis
Wandern
Jeder wandert, jeder weiß es, Doch es hält ihn auf den Straßen Bis ihm durch die Nebelmassen Scheu ein Licht blinkt wie ein leises Hoffen und wie Zielerfassen, Wie ein Ahnen jenes Preises, Der als Schluß des Wanderkreises Rückkunft heißt im Ruhenlassen: Namenloser Gast ist jeder, Bis den Namen er darf schreiben, Nur ein Wort, ein Zug der Feder, Dennoch Zeichen für ein Bleiben, Selbstsichfindend, Ruh im Wandern Bei dem Freund, das Ich im andern. Hermann Broch (1886−1951) Eintrag in ein Gästebuch, 1939
Etymologie
`Wandern´ tritt neben die anderen 21 germanischen Nomina der Fortbewegung 1) und findet sich vergleichsweise selten im frühen Deutschen, Englischen (aengl. wandrian) und Altfriesischen (wondrian); in den slavischen Sprachen wendrowaz, wandrowasch, wandrati, im Böhmischen Wandrugi, wandrował, wandrowati 2). Möglicherweise ist es verwandt mit dem Altnordischen vǫndr 3) für ‘Stange, Want, Mast’. Vǫnd ist Adjektiv zu vandr ‘schwierig’, vǫndr bedeutet ‘Zauberstab, Veränderer’. Im Altnordischen wird vǫnsuðr mit Wanderer übersetzt, bildlich für `Der Schwingende´ 4). Dieselbe Vorstellung findet sich auch im Persischen und Arabischen (mosāfer مسافر von Musāfahat `die Flügel schwingen´) und im gleichnamigen I-Ging-Zeichen I-Ging-Zeichen 56: Der Wanderer 旅 lǚ.
Ursprünglich bedeutete `wandern´ ganz sachlich `einen geraden Weg zurücklegen´ mit einer Nebenbedeutung von `verändern´ im Sinne von `wandeln´ und `wenden´ als einem endlosen hin und her verbunden durch die Kehre (Umkehr, Rückkehr), vielleicht also an die Erfahrung des Gehens hinter dem Pflug zwischen den Gewänden der Ackerfläche sich anlehnend 5) so wie auch die `Fahrt´ an das Gehen in der Furche angelehnt ist, jedoch früh übertragen wird auf das Unterwegs-sein außerhalb der Gemeinschaft durch die Wildnis.
Bedeutungswandel
Das Verdrängen der Wildnis und das Wachsen der Städte mit einer überregionalen Infrastruktur ermöglichte neue Bedeutungsinhalte für `wandern´:
- Wandern im Sinne von Fussreisen erscheint erst sinnvoll, wenn das Reiten mit dem Pferd, das Reisen mit der Kutsche oder mit dem Automobil als mögliche Alternative gegenübersteht und das Reisen zu Fuß kultiviert werden kann und verdrängt dann sowohl das verwandte `wandeln´, welches leichter und anmutiger klingt als auch das `wallen´, welches sich als Waller `Pilger´ länger behauptet.
- Der Wanderzwang der Handwerksgesellen wird in den Zunftstatuten ab dem 14. Jahrhundert festgeschrieben.
- Wandern erscheint im 15. Jahrhundert als das Zurücklegen einer größeren Strecke durch die Natur.
- Wandern im Sinne eines romantischen Durchstreifens der Natur wird so erst etwa seit dem 17. Jahrhundert verstanden.
- Sportmediziner definieren Wandern über eine Schrittgeschwindigkeit von sechs Kilometern pro Stunde - das dürfte jedoch eher die Ausnahme als die Regel sein und ist mit Gepäck untrainiert kaum machbar.
- Das Wandern wird als Spaziergang sprichwörtlich des Müssiggangs Bruder und reduziert den Marsch zum Schlendern in der Freizeit, manchmal erkennbar am Picknickkorb.
- Das alte Wort lustwandeln verwandelt das Wandern zum Bummeln und Flanieren. Beide betonen das sich-verlieren ohne auf die Zeit zu achten, doch unterscheiden sie sich durch Stil und Haltung. Allerdings ist es kaum vorstellbar, in der Einsamkeit zu bummeln und zu flanieren. Beide benötigen das sehen-und-gesehen-werden als Teil einer Menge, von der sie sich absetzen können, teils durch Lässigkeit oder Überheblichkeit oder Nachdenklichkeit, teils durch offensichtliche Expressivität, erkennbar etwa an Einkaufstasche, Sonnenschirm, Spazierstock, Strohhut oder Pfeife.
- Gepäckformen wie Felleisen, Berliner, Tornister, Ranzen, Mantelsack oder Rucksack wurden zeittypisch über ihre Notwendigkeit hinaus zum kennzeichnenden Merkmal von Stereotypen und Gruppen; dabei wandelte sich beispielsweise der Rucksack vom Attribut des Wanderers in den letzten Dekaden zum modischen Accessoire und auch der Bergschuh ist kein Alleinstellungsmerkmal mehr.
- Stockformen sind bis heute kennzeichnend, etwa als Pilgerstab, als Knotenstock (Stenz) für Wandergesellen, als Ziegenhainer für Studenten, als Spazierstock, als Teleskopstock, als Wanderstock mit Stocknägeln als Souvenir.
- Bemerkenswert ist, dass das Wandern zur Wanderschaft werden kann, also zur Bestimmung, zur Lebensphase, zur Haupttätigkeit, weil analoge Bildungen wie Reiseschaft, Fahrschaft nicht existieren. Derart betont erscheinen auch: Wanderjahre, Wandermönch, Wanderprediger, Wanderweg/-pfad.
- Bemerkenswert ist auch, dass es in der Literatur anscheinend nur einen Wanderer gibt, der ankommt, nämlich den »Kömmling« im zweiten Teil und fünften Akt des Faust von
Goethe
. Entdeckt hat dasPeter Härtling
6).
Der Wanderer in der Kunst
- 1492–1497
Dürer, Albrecht
: Felsenstudie mit Wanderer
22,5×31,6 cm, Feder auf Papier, Wien: Grafische Sammlung Albertina - um 1500
Hieronymus Bosch
: Der Wanderer (= Der Hausierer) - 1700-1750
Guercino, Giovanni Francesco
: Landschaft mit Wanderer
29,2×44,5 cm, Feder, Paris: Musée du Louvre, Cabinet dessins - 18. Jh.
Wolf, Caspar
: Felslandschaft, im Vordergrund zwei Wanderer
17,5×17,5 cm, Öl auf Karton, Basel - um 1818
Friedrich, Caspar David
: Der Wanderer über dem Nebelmeer
74,8×94,8 cm, Öl auf Leinwand, Hamburg: Kunsthalle - um 1870
Russischer Photograph
- Pilger und Wanderer [1] Paris: Bibliothèque Nationale
- Pilger und Wanderer [2] Berlin: Ullstein Bilderdienst
- 1879
Klinger, Max
: Sterbender Wanderer Opus I, »Radierte Skizzen«
41,4×29,7 cm, Radierung und Aquatinta - 1910
Ernst Barlach
Ruhender Wanderer
Gips, getönt, 18×50× 15 cm Berlin, Nationalgalerie - 1927
Ernst Barlach
Wanderer im Wind
Kohle auf Papier, 63,8×48 cm
Quelle | Zeit | Titel | Kategorie |
---|---|---|---|
Überlieferung | vor 1070 | The Wanderer | altengl. Gedicht |
Richard Savage | 1726 | The Wanderer | Lyrik |
J. W. von Goethe | 1772 | Wandrers Sturmlied | Lyrik |
J. W. von Goethe | 1774 | Der Wanderer | Lyrik |
Friedrich Hölderlin | 1797 | Der Wanderer | Lyrik |
Gebrüder Grimm | vor 1834 | Die beiden Wanderer | Märchen |
F. Nietzsche | 1876 | Der Wanderer | Lyrik |
F. Nietzsche | 1884 | Der Wanderer | Lyrik |
Knut Hamsun | ab 1906 | Wanderer-Trilogie | Prosa |
Literatur
siehe auch Literaturliste zum Fußreisen
Albrecht, Wolfgang, Kertscher, Hans-Joachim
(Hrsg.)
Wanderzwang – Wanderlust.
Formen der Raum- und Sozialerfahrung zwischen Aufklärung und Frühindustrialisierung
Tübingen 1999.Dieter Arendt
Der Mensch unterwegs
in: Zeitwende 38 (1967) 688 - 698Baensch, Thorsten
,Norbert Schöbel
Von Ort zu Ort 12 Jahre zu Fuss:
Bruxelles, Baden-Baden, München, Hamburg, Berlin, Praha 2004-2017.
768 S. Breda The Eriskay Connection 2021.
3138,5 km in 155 Tagen zwischen 2004 und 2017, »in Erinnerung an unsere wandernden Vorgänger und gewidmet allen, die zu Fuss reisen«.Büscher, Wolfgang
Deutschland, eine Reise.
249 S. Hamburg 2007: RowohltBüscher, Wolfgang
Berlin - Moskau eine Reise zu Fuß.
Hamburg 2003: Rowohlt.
Drei Monate zu Fuß durch Polen, Weissrussland und Russland.Cusack, Andrew
The wanderer in nineteeth-century [sic] German literature : intellectual history and cultural criticism.
X, 257 S. New York 2008.Delius, Friedrich Christian
Der Spaziergang von Rostock nach Syrakus.
154 S. Hamburg 1995: Rowohlt.Esser, Hartmut
Aspekte der Wanderungssoziologie. Assimilation und Integration von Wanderern, ethnischen Gruppen und Minderheiten. Eine handlungstheoretische Analyse.
Habil. (=Soziologische Texte, 119) 294 S. Bibliogr. S. 267−288 Darmstadt 1980: Luchterhand. InhaltHärtling, Peter
Der Wanderer.
157 S., Darmstadt 1988: Luchterhand
Der Autor erzählt von seinen Fussmärschen 1945 durch ein Europa, das in Schutt und Asche lag, von seiner Zeit des Umhergetriebenseins und der Fremdheit. »Fremd bin ich eingezogen, / Fremd zieh ich wieder aus« - so beginnt die Winterreise vonWilhelm Müller
und wird zum Motto von Härtlings Wanderer.Alessandra Riva
Die Figur des Wanderers bei Peter Härtling.
Justus-Liebig-Universität Gießen 2005 Online
Die Natur, die Jahreszeiten und der zyklische Ablauf in der Bewegung des Wanderers mit Bezügen zu Goethe, Müller (Winterreise-Zyklus) und Nietzsche.
Kieling, Andreas
Ein deutscher Wandersommer. 1400 Kilometer durch unsere wilde Heimat.
301, [32] S. Ill., Kt. München 2011: Malik. Inhalt
Mit seiner Hündin Cleo wanderte Kieling entlang der ehemaligen innerdeutschen Grenze vom Dreiländereck bis an die Ostsee, 1400 Kilometer durch acht Bundesländer in sieben Wochen.Stefan Schaffner
Mittelirisch fethid ’geht, macht seinen Weg’, althochdeutsch wadalōn, wallōn ’umhergehen, wandern; umherwogen’, altenglisch waðuma ’Woge, Welle’, waðol ’Vollmond’, und Verwandtes.
in: 277-314 Die Indogermanistik und ihre Anrainer. Dritte Tagung der Vergleichenden Sprachwissenschaftler der Neuen Länder. Stattgehabt an der Ernst-Moritz-Arndt-Universität zu Greifswald in Pommern am 19. und 20. Mai 2000, hrsg. von Thorwald Poschenrieder (= IBS Bd. 114), Innsbruck 2004, 277-314Schmauks, Dagmar
Wandern als komplexe ressourcenbeschränkte Tätigkeit.
(=Universität des Saarlandes, 1) Saarbrücken 1996 14 S.Solnit, Rebecca
Wanderlust: A History of Walking.
New York: Viking, 2000; X, 326 S., London 2014: Granta Books.
engl. hiking
siehe *Fußreisen
Václav Jan Rosa
: Thesaurus linguae BohemicaeHärtling, Peter
: Der Wanderer. München 2002: dtv, S.75. - Hier zitiert nach Allessandra Riva
: Die Figur des Wanderers bei Peter Härtling, Universität Gießen 2004. pdf online