====== Der Aufbruch ====== „Wohin reitet der Herr?“ „Ich weiß es nicht,“ sagte ich, „nur weg von hier. Immerfort weg von hier, nur so kann ich mein Ziel erreichen.“ „Du kennst also das Ziel,“ fragte er. „Ja,“ antwortete ich, „ich sagte es doch. Weg von hier - das ist mein Ziel.“ Franz Kafka (1883 - 1924) Jede [[wiki:reisen|Reise]] beginnt mit einem Aufbruch ((mhd. risen, ahd. risan, engl. rise bezeichnen ein //sich erheben//, also Aufbruch als Grundbedeutung von Reise)), gefolgt vom [[wiki:abfahren|abfahren]]. In jedem Aufbruch keimt die Saat eines unbekannten [[wiki:abenteuer|Abenteuers]]. Wer die Tür hinter sich schließt, hat sich dazu entschieden, das weiß schon ein Sprichwort: //»Wer über die Türschwelle ist, hat die halbe Reise getan.«// ((K.F.W. Wander, Deutsche Sprichwörter)): der [[wiki:uebergang|Übergang]] durch den ersten [[wiki:zwischenraum|Zwischenraum]] ist vollzogen (→ [[wiki:liste_raumvorstellungen|Raumvorstellungen]]). Das sehr alte deutsche Wort '[[https://www.woerterbuchnetz.de/DWB?lemid=W11412|weghaft]]' bezeichnet im Gegensatz zu 'sesshaft' den reisefertigen Zustand vor dem Aufbruch. Das Herzklopfen beim Aufbruch verweist auf die Ambivalenz dieses Augenblicks: die Furcht vor dem Unbekannten einerseits, [[wiki:neugier|Neugier]] und [[wiki:sehnsucht|Sehnsucht]] andererseits. Diesem Augenblick wohnt ein Reiz inne, der die [[wiki:phantasie|Phantasie]] entfesselt. Die Phantasie ist bereits [[wiki:unterwegs-sein|unterwegs]], bevor die Reise physisch beginnt. Die [[wiki:imaginaere_reisen|imaginäre Reise]] in eine [[wiki:welt|Welt]] jenseits des Bekannten, in das Vorstellbare und Unvorstellbare, weckt Lust, aber auch Angst. Die Phantasie gebiert Träume, aber auch Albträume. So gab es bereits in der griechisch-römischen Antike eine literarische Form zum Aufbruch, das [[wiki:propemptikon|Propemptikon]]. Der [[wiki:reisende|Reisende]] weiß, daß es für ihn unterwegs einen anderen Alltag geben wird, er bricht beim Aufbruch mit Routinen und Gewohnheiten. Einmal [[wiki:unterwegs-sein|unterwegs]], werden wir zum [[wiki:der_fremde|Fremden]] und sind als solcher arm an Bindungen, immerhin reich an [[wiki:moeglichkeitssinn|Möglichkeiten]] und jeder neue Aufbruch entledigt uns von neuen Bindungen und erweitert den [[wiki:freiheit|freien]] Raum. Die Flüchtigkeit dieses Zustandes wird beschrieben als Transit, [[wiki:passage|Passage]], 'nur auf der Durchreise sein', [[wiki:uebergang|Übergang]], [[wiki:unterwegs-sein|unterwegs-sein]] im [[wiki:zwischenraum|Zwischenraum]], \\ → [[wiki:unterwegs-sein-konzepte|Konzepte des Unterwegs-Seins]]\\ → [[wiki:soziotechnisches_handlungssystem|Soziotechnisches Handlungssystem des Unterwegs-Seins]]. Weitaus die meisten scheuen daher den Aufbruch (siehe [[wiki:balconing|balconing]]) und von denen, die gehen, kehren manche nie zurück und viele sind nicht mehr die, als die sie losgezogen sind. Der Aufbruch ist Teil eines immer wiederkehrenden Topos des Reisens: Lösen der Bindungen, Aufbruch ins Unbekannte, Konfrontation mit Angst, Sieg über die Angst, Rückkehr, Weitergabe des Wissens. Der [[wiki:pilger|Pilger]] nutzt diesen Weg zur inneren Einsicht; der [[wiki:abenteuer|Abenteurer]], um sich mit der Außenwelt zu messen. Beide [[wiki:weg|Wege]] erweitern unser Verständnis von »[[wiki:weltanschauung|Welt]]«, sei es die spirituelle oder die geographische. In jedem Fall weg-führend ist jedoch der Moment des Aufbruchs, denn //»Wer nie geht – kehrt nie heim«// (''Heinz Rox-Schulz''). ==== Literatur ==== * ''Clausen, Jens''\\ //Vom Verlassen sicherer Häfen.//\\ In: Soziale Psychiatrie 4 (1997) 4–7 * ''Webster, William T.''\\ //Der „Hinhocker” Und Der „Weltwanderer”: Zur Bedeutung der Reise bei ''Wilhelm Raabe''//\\ Jahrbuch der Raabe-Gesellschaft, 23.1 (1982) 26-39. [[https://doi.org/10.1515/9783110243710.26|DOI]] * ''Farrelly, Daniel J.''\\ //„Wie bin ich froh, daß ich weg bin“: Goethes erste Reise in die Schweiz – Reisen als Flucht.//\\ S. 417–427 in: Fuchs, Anne und Harden, Theo (Hg.): Reisen im Diskurs. Modelle der literarischen Fremderfahrung von den Pilgerberichten bis zur Postmoderne. Heidelberg 1995: Universitätsverlag C. Winter * ''Makowiecka, Maria Hanna''\\ //The Theme of "Departure" in Women's Travel Narratives, 1600−1900: Taking Leave from Oneself.//\\ V, 205 S. New York 2007: Edwin Mellen. [[https://catdir.loc.gov/catdir/toc/ecip0721/2007026636.html|Inhalt mit Zusammenfassung]] * ''Rothwell, William''\\ //Arrivals and departures : the adoption of French terminology into Middle English.//\\ English Studies 79 (1998) 144–165 * ''Takahashi, Miho''\\ //Über die Asymmetrie von „Ursprung “und „Ziel “//.\\ Eine korpusbasierte Studie am Beispiel der Partikel-und Doppelpartikelverben der [[wiki:fortbewegung|Fortbewegung]] mit [[wiki:fahrt|fahren]].\\ Linguisten-Seminar: Forum japanisch-germanistischer Sprachforschung. Vol. 3. Japanische Gesellschaft für Germanistik, 2021. * ''Richard Horn''\\ //Aufbruch//, 1919\\ Leichtmetall, patiniert, 97×39×40 cm Berlin, Nationalgalerie * ''Moritz von Schwind''\\ //Abschied im Morgengrauen//, 1859\\ Öl auf Pappe, 36×24 cm Berlin, Nationalgalerie