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Spaziergang
Spaziergang ist Müssiggangs Bruder. Spatzeregång gjör laster mång. (schwed.) Karl Fr. Wilhelm Wander, Deutsches Sprichwörter-Lexicon
Eine Variante des Gehens, verwandt mit Lustwandeln und Wanderlust, doch kein Wandern durch die Natur im strengen Sinne und ganz sicher weder ein Marsch noch eine Walz, da weder getrieben noch zweckorientiert. Im Unterschied zum städtischen Bummeln und Flanieren ein Gang durch die kultivierte Natur, eine »Landpartie« im Dazwischen. Ein Spaziergang bedarf eines guten Weges, keines Trampelpfades, daher im Französischen allée und promenade, im Deutschen früher auch Wandelhalle und Spazierlaube.
Im Deutschen zuerst als Titel eines bedrohlichen Kupferstiches von Dürer 1498, schriftlich bei Luther
im 16. Jahrhundert belegt und auch dort als »ein wüster Spaciergang« wenig erbaulich. Der Spaziergang betont das langsame, nicht notwendige Gehen, lustwandelndes sich Fortbewegen im Zwischenraum (lat. spatium); im Unterschied zur Fußreise ohne Ziel und damit die stabilitas loci des Mittelalters in Frage stellend. Lustwandeln und Augenlust (Neugier) brachen mit den strengen mittelalterlichen christlichen Glaubensbekenntnissen.
Das muss man sich leisten können und so erscheint der Spaziergang in der Neuzeit zuerst beim Adel. Jean-Jacques Rousseau
(1712 - 1778) begründete 1776/78 mit den romantischen Träumereien des einsamen Spaziergängers (Rêveries du promeneur solitaire) seine ideologische Aussage, dass der Mensch nur im Naturzustand unabhängig und frei lebe. Seinen modischen Höhepunkt fand der Spaziergang in bürgerlichen Kreisen um 1800, unsterblich geworden in Goethes
Szene des Osterspaziergangs im Faust:
»Aus dem hohlen finstern Tor dringt ein buntes Gewimmel hervor. Jeder sonnt sich heute so gern.« Aufbruch also, hinaus in die Gärten und Parks, aber bitte nur zwischen Sonntagsbraten und Kaffeetafel. Mehr wäre bereits Waldeinsamkeit, weiter wäre Wildnis und Abenteuer. Mit der zunehmenden Bedeutung von Freizeit diente der Spazierstock kleinbürgerlichen Kreisen als Symbol für Muße, als Zeichen nicht arbeiten zu müssen, mit dem Flaneur als Helden, der mit dem Stock die Zeit totschlägt, behütet durch Sonnenschirm und Sommerhut.
Spaziergang durch die Sprachen
Vermutlich kam der Begriff über das italienische `loggia da spasseggiar´ ins Deutsche, also zwar als ein Begriff, in dem ein mediterranes Lebensgefühl wie der Strand (ital. spiaggia) aufscheint, ist jedoch als `spazieren´ auch schon im Mittelhochdeutschen zu finden und mit `spät´ und `sputen´ aus gemeinsamer indogermanischer Wurzel *sp(h)ē(i)- im Sinne von ‘gedeihen, sich ausdehnen, vorwärtskommen, Erfolg haben, gelingen’ eher anstrengend.
Je nach Sprache und Land wird diese Tätigkeit unterschiedlich bewertet. Sie wird überwiegend positiv gesehen im italienischen la passeggiata, im französischen le promenade, im spanischen el paseo und ist beim russischen гулять gulyat' ein unverzichtbarer Teil genüßlicher Tagesgestaltung. Dagegen verbindet das Englische `to stroll´ damit eine abwertende Nebenbedeutung im Sinne von Umherstrolchen, Vagabundieren.
[persisch Pīyāda-rawī, arabisch Mishwār al-mashy مشوار المشي]
Die literarischen Formen verbinden den Spaziergang oft mit Einsamkeit. Neudeutsch finden sich Streetwalking and Flänerie; die »Wissenschaft vom Spaziergang« nennt sich Promenadologie (engl. strollology).
Der Spaziergang in der Kunst
- 1498:
Albrecht Dürer
: Der Spaziergang [Junges Paar und Tod]
Kupferstich 19,2 × 12 cm, Kupferstichkabinett Berlin - 1520:
Lucas van Leyden
: Der Spaziergang: Die Promenade
Kupferstich - 1585:
Hans Sachs
: Ein Spaciergang beschehen von einem Vatter und Sohn.
(Ein Gespräch in Gedichtform) - 1617:
Jacques Callot
: Der Spaziergang
Radierung aus »Die Capricci«, 5,4 × 8,1 cm, Bibliothèque Nationale Paris - 1628:
Johannes Stumpf
: Hortulus Illustris. & verè Christianus, Das ist, Ein Fürstlich vn[d] Christliches Rosengärtlein: In welchem nit allein allerley wolriechende Blümlein, heylsame Kräutlein … zu finden, sondern auch der Spaziergang in gewisse Tag vertheilet. Coburg: Gruner. - 1639:
Martin Opitz
: Der Spaziergang
Gedicht, vor 1639 - 1692:
Herbst, G. etal.
: Des Schlesischen Gärtners Lustiger Spatziergang
Oder nützlicher Garten-Discurs: Darinnen gründlicher Bericht zu finden/ welcher Gestalt 1. Obst-Gärten/ 2. Küchen-Gärten/ 3. Wein-Gärten/ 4. Blumen-Gärten und 5. Medicin-Gärten … anzurichten/ und … zu erhalten seyn ; … in fünff Theile zusammen getragen. - 17##:
NN
: Der Spaziergang auf dem Lande
Holzschnitt aus Gerona 7,5 × 7 cm Fondo Carreras Gerona - 1752:
Pietro Longhi
: Der Spaziergang zu Pferd
Öl auf Leinwand 62 × 58 cm, Casa Rezzonico Venedig - 1757:
Giovanni Domenico Tiepolo
: Spaziergang im Sommer
Fresken in der Villa Valmarana, Vicenza - 1776/78
Jean-Jacques Rousseau
: Rêveries du promeneur solitaire (Träumereien des einsamen Spaziergängers)
Lyrisches Prosawerk, unvollendet - 1785:
Johann Gaudenz von Salis-Seewis
: Der Spaziergang
Eine Erzählung in Versen - 1795:
Friedrich Schiller
: Spaziergang
Gedicht - 1798:
Francisco de Goya y Lucientes
»Neunter Traum, Mächtige Hexe, die an Wassersucht leidet, wird von den besten Fliegerinnen zu einem Spaziergang mitgenommen«
Zeichnung (Feder in Sepia auf Papier) für »Los Caprichos« 24 × 16,8 cm, Museo del Prado Madrid - 1803:
Johann Gottfried Seume
: Spaziergang nach Syrakus im Jahre 1802
Reisebericht - 1816:
Maximilian von Schenkendorf
: Der Spaziergang
Gedicht - 1841:
Joseph von Eichendorff
: Spaziergang
Gedicht in 20 Versen - 1847:
Adalbert Stifter
Der Waldgänger
Novelle - 1851:
Carl Spitzweg
Philosoph im Park
Öl auf Leinwand, 27,5× 34 cm Von der Heydt-Museum Wuppertal - 1857:
Henry David Thoreau
: Spazieren
Essay - 1864:
Oskar Wisnieski
: Spaziergang
Öl auf Leinwand 92×56 cm Nationalgalerie Berlin - 1878:
Max Klinger
Spaziergänger/ Der Überfall
Öl auf Leinwand 37× 86 cm Nationalgalerie Berlin - 1883:
Georges Seurat
: Spaziergang
Zeichnung Feder, Tinte 29,8×22,4 cm Von der Heydt-Museum Wuppertal - 1898:
Hugo von Hofmannsthal
: Spaziergang
Gedicht, 32 Verse - 1912:
August Macke
: Spaziergang in Blumen
Öl auf Leinwand 63,5×48,5 cm Nationalgalerie Berlin - 1912:
Ernst Barlach
Der Spaziergänger
Stukko, getönt, 51×24,8×12,2 cm Nationalgalerie Berlin - 1913:
Franz Kafka
: Der plötzliche Spaziergang
Erzählung in zwei Sätzen - 1913:
Georg Trakl
: Der Spaziergang
Gedicht - 1917:
Robert Walser
: Der Spaziergang
Novelle - 1925:
Rainer Maria Rilke
: Spaziergang
Gedicht, vor 1926 - 1925:
Kurt Tucholsky
: Spaziergang
Glosse (Peter Panter, Die Weltbühne, 28.04.1925, Nr. 17, S. 629) - 1951:
Ernst Jünger
: Der Waldgang
Essay - 1971:
Thomas Bernhard:
Gehen
Erzählung - 1983:
Otl Aicher
: Gehen in der Wüste
Reisebericht - 2018:
Christoph Simon
: Spaziergänger Zbinden
Roman
Literatur
Sabine Eickenrodt
Plötzlicher Spaziergang.
Der Aufbruch als Topos einer literarischen Bewegungsform beiKafka
undWalser
.
In: Hans Richard Brittnacher, Magnus Klaue (Herausgeber):
Unterwegs. Zur Poetik des Vagabundentums im 20. Jahrhundert.
Böhlau-Verlag, Köln [u. a.] 2008Keller, Andreas
Spaziergang und Lektüre.
Analogien zwischen fiktionaler Bewegung und faktischem Rezeptionsverhalten als hermeneutische Hilfestellung für Textkonzeptionen des 17. Jahrhunderts.
In: Hartmut Laufhütte (Hrsg.): Künste und Natur in Diskursen der Frühen Neuzeit. Bd. 2. Wiesbaden 2000, S. 951–967.Kosch, Arlette
«Spaziergang» vs «Wanderung». Deux modes d'ambulation dans les pays germanophones entre 1770 et 1840.
Rencontres (2019) 261-278.Krebber, S.
Der Spaziergang in der Kunst:
Eine Untersuchung des Motives in der Kunst des 18. und 19. Jahrhunderts
Frankfurt am Main: P. Lang. 1990Gudrun M. König
Eine Kulturgeschichte des Spaziergangs
Spuren einer bürgerlichen Praktik 1780–1850
Böhlau, Wien 1996, zugl. Dissertation, Universität Tübingen 1994Leferink, Klaus
Spazierengehen – eine leichte Form der Schizophrenie.
Brückenschlag, Zeitschrift für Sozialpsychiatrie, Literatur, Kunst. Neumünster: Paranus 15 (1999) 165-173Pasic, Ana-Marija, Sebastian Polmans
Der Spaziergang in der Literatur
Exemplarische Untersuchung anhand der Texte vonRobert Walser
, „Der Spaziergang“, undThomas Bernhard
, „Gehen“. München GRIN 2008, Online.Pfeifer, Annie, Reto Sorg
„Spazieren muss ich unbedingt“
Robert Walser
und die Kultur des Gehens.
Paderborn : Wilhelm Fink, 2019. Tagungsband, darin:- Spazieren-Müssen in der 'Jetztzeit' : Robert Walsers Spaziergang als Ich-Novelle
- Weltwahmehmen - Weltzurichten. Die Programmatik der Spaziergangswissenschaft von
Lucius Burckhardt
- Gangarten der Aufklärung:
Lessing
- Walking is NotWriting: Performance and Poetics in
Walsers
Der Spaziergang - Wo spielt
Walsers
Spaziergang? Stichworte zu seinem kultur- und literaturgeschichtlichen Ort - Der Spaziergang im Fassungsvergleich
- „Die Verbindung mit der lebendigen Welt“: Robert Walsers Ästhetik der Evidenz
- Schreiben gehe : zu Robert Walsers idiografischer Beweglichkeit
- Translating der Spaziergang: Translation as Walk
- „Taking a Line for a Walk“: Walser and Visual Ornament
- Speed Politics: Walsers Gangarten und Gehtempi im Kontext seiner Poetik der Mobilität
- The Walker as Collector
- „Gott geht mit den Gedankenlosen“: Versuch über den O-Ton in Robert Walsers Fortbewegungskunst
- Der Spaziergang in
Paul Klees
künstlerischem Schaffen - 'Promenades architecturales': Robert Walsers Wohnungswanderungen
- „Uns ist es nun einmal beschieden, spazieren zu gehen“: Zu
Carl Seeligs
Wanderungen mit Robert Walser - Between Streetwalking and Flänerie : Rethinking Female „Fortbewegung“
Sadowsky, Thorsten
Gehen Sta(d)t Fahren. Anmerkungen zur urbanen Praxis des Fußgängers in der Reiseliteratur um 1800.
S.61-90 in: Albrecht, Wolfgang, Kertscher, Hans-Joachim (Hg.): Wanderzwang - Wanderlust: Formen der Raum- und Sozialerfahrung zwischen Aufklärung und Frühindustrialisierung, Berlin, Boston 1999: Max Niemeyer. DOISchelle, Karl Gottlob
Die Spatziergänge oder die Kunst spatzierenzugehen.
Markus Fauser (Hg.) Nachdr. der Ausg. Leipzig, Martini, 1802. Hildesheim 1990: Olms. OnlineSchneider, H. J. E.
Selbsterfahrung zu Fuss: Spaziergang und Wanderung als poetische und geschichtsphilosophische Reflexionsfigur im Zeitalter Rousseaus
In: Söring, J.: Rousseauismus. Naturevangelium und Literatur. Frankfurt am Main 2000, S. 133-154Tanzer, Gerhard
Spazierengehen.
Zum ungewöhnlichen Aufschwung einer gewöhnlichen Freizeitform im Wien des ausgehenden 18. Jahrhunderts.
in:Beiträge zur historischen Sozialkunde 12 (1982), S. 67-72.Warneken, Bernd Jürgen
Kleine Schritte der sozialen Emanzipation: Ein Versuch über den unterschichtlichen Spaziergang um 1900.
Historische Anthropologie 2.3 (1994) 423-441. OnlineBertram Weisshaar
(Hg.)
Spaziergangswissenschaft in Praxis: Formate in Fortbewegung.
Jovis 2013. ISBN 978-3-86859-242-9