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Der Traum vom Einfachen Leben

»Das Leben siedelt sich an wie Moos an altem Gemäuer.
Für eine kurze Periode, 
nur für einen glücklichen Tag im Ozean der Ewigkeit.«

Antoine de Saint-Exupéry (1900 - 1944)

Zurück zur Natur

Globetrottern erklärt sich die Idee sofort – wir alle haben reichlich Erfahrungen mit Loslassen und Ballast abwerfen. Selten wird dieser Reisestil auch daheim so radikal praktiziert, doch neu ist das Konzept der *Einfachheit nicht. Wer will, kann solches Sehnen bis in die Antike zurückverfolgen. Die Bukolische Dichtung besang das Leben der Rinderhirten, später tritt das Schäferidyll hinzu und Goethe träumte von Arkadien - der Hirtenstab ist seit 5.000 Jahren ein Symbol mit spirituellem Bezug. Für ein »Zurück zur Natur« wird gerne Rousseau (1712 - 1778) zitiert, doch hate er den »promeneur solitair« im Blick - das wurde ihm von anderen hämisch verdreht.

»Zurück zur Natur heißt die Parole, aber nicht zu Fuß« findet sich als Formulierung zuerst in einem CDU-Protokoll von 1977 1).

Als Ahnherr des Strebens nach einem einfachen Leben gilt Henry David Thoreau (1817-1862), der am 4. Juli 1845 eine selbstgebaute Blockhütte bei Concord am Walden-See bezog, auf einem Grundstück Ralph Waldo Emersons. Das zweijährige einfache Leben, das er alleine und selbständig dort führte, beschrieb er in Walden. Or life in the Woods:

»Ich zog in den Wald, weil ich den Wunsch hatte, mit Überlegung zu leben,
dem eigentlichen, wirklichen Leben näher zu treten, zu sehen, 
ob ich nicht lernen konnte, was es zu lehren hätte, damit ich nicht, 
wenn es zum Sterben ginge, einsehen müsste, dass ich nicht gelebt hatte. 
Ich wollte nicht das leben, was nicht Leben war; das Leben ist so kostbar. 
Auch wollte ich keine Entsagung üben, außer es wurde unumgänglich notwendig. 
Ich wollte tief leben, alles Mark des Lebens aussaugen, 
so hart und spartanisch leben, dass alles, was nicht Leben war, 
in die Flucht geschlagen wurde.«

Lebensstile

Vor dem Ersten Weltkrieg pflegte die Lebensreform-Bewegung das Landleben und die Anthroposophen um Rudolf Steiner ideologisierten es; Demeter wurde gegründet; vereinzelte Propheten fanden Anhänger 2). Zwischen den beiden Weltkriegen lebte diese Idee wieder auf. Der Vagabund wurde zum Ideal, mit Gregor Gog als »König der Vagabunden«. 1930 schrieb Ernst Wiechert Das einfache Leben, den Versuch eines Mannes, der den Sinn seines Lebens durch ein entsagendes Dasein im Einklang mit der Natur als Fischer an den Masurischen Seen sucht. Ländliche Idylle und Freundschaft werden als Werte beschworen. »Es gibt keine richtige Art, die Natur zu sehen. Es gibt hundert.« Kurt Tucholsky beschrieb schon 1927 anläßlich einer Reise durch die Pyrenäen, welchen Moden »die Naturauffassung« unterworfen ist.

Nach der Freßwelle wurde mit den *Hippies, der 68er-Bewegung, den Alternativen und Grünen die Idee erneut hip: Selbstversorgung auf dem Lande ist eine von mehreren Möglichkeiten, das dazu nötige Basiswissen faßte schon in den 1970er Jahren John Seymour zusammen (Das grosse Buch vom Leben auf dem Lande. Ein praktisches Handbuch für Realisten und Träumer) 1997 in 19. Auflage beim Otto Maier Verlag. Ohne das Zurück zur Natur wird aus Verzicht Frugalismus oder Konsumverweigerung, also

Aussteiger, Frugalisten und Selbstversorger

Um die Jahrtausendwende heißen die ehemals ökobewegten nun Aussteiger, weil mit 40 das Konto so gut gefüllt ist, dass man keinen Anschlussjob braucht. Into the Wild, der Roman von Jon Krakauer, wird 2007 von Sean Penn verfilmt, basierend auf der wahren Geschichte des Christopher McCandless, 24 Jahre alt, der mit einem Sack Reis und einem Gewehr in die *Wildnis Alaskas zog und vier Monate später in einem *magic bus verhungerte. Geflohen vor dem »Gift der Zivilisation« einer sicheren bürgerlichen Zukunft, aus einer amerikanischen Durchschnittsfamilie, Besitz und Beziehungen aufgebend, hinein in einen Traum von absoluter Wahrheit in spiritueller *Suche nach seinem Platz in der Natur. 4) Zivilisationsmüdigkeit kann sich nur leisten, wer in der Zivilisation lebt. Der Natur sind Zivilisationsflüchtlinge ziemlich egal, aber die Konfrontation mit der Natur legt auch die innere Wildnis bloß, wie manche Filme zeigen ((Deliverance (USA 1972, 109 min) deutsch: Beim Sterben ist jeder der Erste (Kino), Flußfahrt (TV)
Regie: John Boorman, Hauptdarsteller: Jon Voight, Burt Reynolds, Ned Beatty, Ronny Cox
Grizzly Man (USA 2005, 103 min) Regie: Werner Herzog).

Anne Donath
Wer wandert, braucht nur, was er tragen kann
Bericht über ein einfaches Leben
1. Auflage Malik/Piper München 2006
Pappband 12x20,5 cm: 190 Seiten, 49 Textabb. 

Anne Donath lebt von weniger als 400 Euro im Monat und hat alles abgelegt, was sie nicht unbedingt benötigt: Kein Strom. Kein Telefon. Kein Gas. Kein Auto. Sie lebt in einer Holzhütte auf weniger als 20 Quadratmetern und finanziert mit gut 50 Arbeitstagen jährlich ihren Lebensstil. Das fand bereits 2003 die ZEIT so spannend, daß sie darüber berichtete (Die Frau, die einfach nur lebt). Andere Medien folgten und so war es wohl unvermeidlich, daß ein Buch erscheinen mußte. Von dessen 190 Seiten beschreiben knapp 40 Seiten ihr »einfaches Leben«, der Rest ist mit Fotos, »Gedichten« und viel Luft gefüllt. Schade.

2020 nimmt die Idee mal wieder Fahrt auf, dieses mal über social media, Tik-Tok oder Instagram. Influencerinnen streifen verträumt durch Wiesen, die Bilder leicht verschwommen. Sie im Blümchenrock, er in der Latzhose, vermutlich im Seymour blätternd: Wie baut man einen Komposthaufen? Wer sich einfühlen möchte, sucht #cottagecore oder #farmcore. Das amerikanische Romantikbild enthält immer die Bausteine Individualismus, Freiheit, Einklang mit der Natur, Reinheit und Unschuld. Cowgirl, Naturbursche und Goldgräber zitieren dann Ralph Waldo Emerson (1803-1882): »Blumen sind das Lächeln der Erde«. Wenn die Schwärmerei abebbt und der Kühlschrank leer ist, beginnt die Wirklichkeit mit Do it Yourself, Reparieren, Gartenarbeit, Pilze sammeln, Kräuter erkennen, Sauerteig führen, Kochen & Backen, der Lagerhaltung von Lebensmitteln, dem Abwehren von Nahrungskonkurrenten usw.

Steffen Guido Fleischhauer, Jürgen Guthmann, Roland Spiegelberger
Essbare Wildpflanzen. 200 Arten bestimmen und verwenden
1. Auflage, Baden: AT Verlag 2007
Klappenbroschur mit Fadenheftung 13,5x21 cm
248 Seiten, durchgehend farbig mit ca 200 Fotos und 200 Zeichnungen
Register der deutschen und lateinischen Namen, Literatur- und Internethinweise

Die Fotos zeigen drei quietschgesund aussehende Autoren. Ob’s an der Wildpflanzenernährung liegt? Giersch, Quecke, Löwenzahn oder Brombeer – was man bisher eher wütend weghackte, läßt sich möglicherweise genüßlich verzehren. Das setzt neben Experimentierfreude auch ein wenig Zutrauen zur eigenen Fähigkeit voraus, die Pflanzen richtig zu bestimmen: wächst dort Hundspetersilie oder Bärwurz, Bärlauch oder Herbstzeitlose? Dazu ordnet das Buch die Pflanzen nach Blattformen, bietet Fotos und Zeichnungen. Im Hof fand ich so Bärwurz und Wiesen-Flockenblume. Gut zu wissen, aber abends gab es dann doch coq au vin. Der Hauptautor beschäftigt sich seit Jahren mit eßbaren Wildpflanzen, die Nebenautoren arbeiten als Landschaftsgärtner und Lebensmittelchemiker. Die so entstandenen Texte sind entsprechend präzise und kompetent. Neben den Verzehrmöglichkeiten von Blatt und Blüte, Wurzeln und Samen werden auch deren Anwendungen in der Volkmedizin aufgeführt. Im Kleingedruckten raten die Autoren dann aber doch von ernsthaften Selbstversuchen ab, wohl wissend, daß eine sichere Bestimmung Erfahrung voraussetzt und Buchwissen diese nur ergänzen kann. (Norbert Lüdtke, Rezension in Der Trotter)

Literatur

Road Music, Novel & Film

Van Morrison: In the Garden (1986)

1)
Unsere Auftrag für die Bürger: Protokoll : Bundesvertreterversammlung und Kommunalkongress Berlin 18.-19.11.1977, KPV Kommunalpolitische Vereinigung der CDU und CSU Deutschlands, 1977
2)
Ulrich Holbein
Fünf ziemlich radikale Naturpropheten
Christian Wagner aus Warmbronn, Karl Wilhelm Diefenbach, Gustaf Nagel, Arthur Gustav Gräser, Willy Sophus Ackermann
Synergia, Basel 2016
3)
Katharina Gugel: Glückliche Geizhälse. Kölner Stadtanzeiger 28./29.12.1996. Rob van Eeden und Hanneke van Veen gelten als Europas geizigstes Ehepaar.
4)
Tobias Kniebe
»Neu im Kino: „Into the Wild“:Lässig in Überlebensfragen«
Süddeutsche Zeitung 11. Mai 2010. Andreas Borcholte
»Sean Penns „In die Wildnis“ American Naturbursche« SPIEGEL 30.01.2008