Christian Schüle
Lob der Ambivalenz
Deutschlandfunk 26.02.2019
Nichts kann mehr zu einer Seelen-Ruhe beitragen, als wenn man gar keine Meinung hat. Georg Christoph Lichtenberg, Sudelbuch E, 1775 – 1776
Eine - vielleicht sogar die wichtigste - Voraussetzung für Reisende. Und ein Unterscheidungsmerkmal zum Touristen, der gar nicht offen sein kann für Neues, weil Urlaub ein Erfüllen von Wünschen ist, also mit einem Rucksack voller Erwartungen befrachtet ist: Freizeit statt Freiheit. Offenheit dagegen ist die Wurzel der Neugier nach dem Unbekannten und findet seine Erfüllung im Staunen.
Die meisten Möglichkeiten finden sich im Dazwischen, weil das Bewegen auf einer Grenze den Zugang zu zwei Welten ermöglicht: hüben und drüben, diesseits und jenseits, innen und außen. Grenzgänger wandeln zwischen dem Bekannten und dem Unbekannten, dem Vertrauten und dem Fremden, zwischen Angst vor und Freude am Unerwarteten, zwischen Leben und Tod, zwischen Sünde (curiositas) und Tugend (studiositas), das verbindet Erforscher, Entdecker, Abenteurer und Globetrotter.
Die Offenheit des Reisenden bedarf einer offenen Gesellschaft, die offen ist für das Andere und dieses als bereichernd annimmt 1). Geschlossene Gesellschaften gestatten keine Abweichung, kein Anders-Sein, keine Reisefreiheit und keine Sprechfreiheit. Reisende kommen jedoch per se in gesellschaftliche Konflikte, weil sie erfahren haben, dass die Welt draußen nicht so ist, wie »man« sich das vorstellt, wie es das mediale Bild vermittelt und wie geltende Glaubensgrundsätze meinen, wie die Welt sein müsse. Ein Diskurs muss jedoch offen und wahr möglich sein, im Sinne einer Parrhesia 2).
Reisende sind unterwegs in anderen Gesellschaften selbst fremd und verändern sich im Begegnen mit dem Anderen. Weil sie verändert zurückkehren sind sie nun auch in der heimischen Gesellschaft fremd. Ihre gelebte Erfahrung empfinden sie für sich selbst zwar als bereichernd, jedoch werden diese Werte von den Anderen nicht gewürdigt, weil deren Stärke ja darin begründet ist, die Andern nicht zu brauchen - eben selbst und allein in der Welt zurecht zu kommen: Reisende soll man nicht aufhalten. Wertschätzen kann solche Fähigkeiten und Erfahrungen nur eine Gruppe, die vergleichbare Erfahrungen vereint und die das Anders-Sein als ein Unterwegs-Sein begreift.
Probleme entstehen, wenn eine Gesellschaft die so erworbene erweiterte Weltanschauung moralisch verurteilt: Was nicht sein darf, das nicht sein kann. Das führt zu Empörung und »Diskurshecken« 3). »Wenn an die Stelle von Argumenten Gefühle treten, ist an Diskutieren nicht zu denken« meint Svenja Flaßpöhler
im taz-Interview 4). Nun gut, das passiert jedem mal. Was aber, wenn der Diskurs grundsätzlich umgewertet wird, wenn die emotionale Aufrichtigkeit entscheidender wird als das vernünftige Argument 5)?
Freiheit ist die Freiheit des Andersdenkenden. Was aber, wenn der Andersdenkende zum Andershandelnden wird und die Freiheit abschaffen will? Wo begrenzen dann die Hecken und Mauern die Offenheit 6)? Tatsächlich finden heute die größten Kämpfe zwischen Gruppen statt, die entweder viel mehr oder viel weniger Regulierung/Dynamisierung fordern 7). Die Populisten sind fasziniert vom Chaos, damit sich dann der Stärkere behaupten kann. Die Identitätspolitiker zerlegen die Gesellschaft so lange in immer kleinere und immer homogenere Blasen, bis jeder seine eigene Blase hat. Beide Wege pervertieren die Suche nach dem »Möglichen«, indem sie völlig entgrenzt fragen: Was können Einzelne von der Gesellschaft bekommen? Die Gesellschaft ist aber ein „Wir“ und die Einzelnen sind mit Rechten und Pflichten in sie eingebunden 8). Tribalismus 9) zerstört Gesellschaft und Gemeinschaft und Staat, das lässt sich unterwegs in manchen Staaten ganz trefflich beobachten. Dazu genügen bereits zwei gegnerische Ethnien. Stammesdenken ist dem Kosmopoliten fremd, weil es sich gar nicht öffnen will.
»Die Gesellschaft, das ist niemand. Du bist selbst für dich verantwortlich.« Margaret Thatcher 1985 als Premierministerium von Großbritannien, »Eiserne Lady«
Rechte zu fordern ist eben nur eine Seite der Medaille. Auf der anderen Seite steht: Was kann ich zurückgeben? Das erfordert ein Gefühl der Zugehörigkeit, der Vertrautheit. Langzeitüberlandreisende nehmen dieses Gefühl lange vor dem Überschreiten der Grenzen des Heimatlandes wahr. Vertrautheit kann auch in Tanger, Kairo oder Istanbul empfunden werden, wenn man aus der anderen Richtung kommt. Das Paradox der Reisenden ist, dass sie zwar zuhause fremd geworden sind, sich jedoch stärker zuhause fühlen als zuvor. Das Verhältnis zwischen Rechten und Pflichten ordnet sich ebenso neu wie die Wertschätzung der gesellschaftlichen Verhältnisse. Zuhause ist es so viel leichter als unterwegs: Das begründet ein Gefühl der Dankbarkeit, weil die Verhältnisse nicht mehr als selbstverständlich hingenommen werden und ein Gefühl der Bescheidenheit, weil der Überfluss wahrgenommen wird, jedenfalls weit entfernt von einer Täter-Opfer-Beziehung 10).
Reisende haben gelernt autonom zu entscheiden und verstehen sich als mündiges Mitglied der Gesellschaft, da sie ihren Platz gewählt haben. Der Bedarf nach -ismen jeder Art ist da ebenso gering wie der Drang zu missionieren. Reisen zeigt, dass alles anders ist, weit entfernt von gut oder schlecht und das ist gut so 11).
siehe auch
Anywheres
Somewheres
Karl R. Popper
Die offene Gesellschaft und ihre Feinde
Band 1: Der Zauber Platons
(1945 engl. The Open Society and Its Enemies. The Spell of Plato)
8. Auflage, Mohr, Tübingen 2003, ISBN 978-3-16-148068-3 (= Gesammelte Werke 5)
Karl R. Popper
Die offene Gesellschaft und ihre Feinde
Band 2: Falsche Propheten: Hegel, Marx und die Folgen
(1945 engl. The Open Society and Its Enemies. The high tide of prophecy: Hegel, Marx and the aftermath
8. Auflage, Mohr, Tübingen 2003, ISBN 978-3-16-148069-0 (= Gesammelte Werke 6)
J. M. Coetzee
Warten auf die Barbaren (engl. Waiting for the Barbarians),
übersetzt von Brigitte Weidmann (Henssel, Berlin 1984, ISBN 3-87329-109-6) und
Reinhild Böhnke (S. Fischer, Frankfurt 2001, ISBN 3-10-010814-0).
Michel Foucault
: »Offenheit statt Überzeugungskraft, Wahrheit statt Lüge oder Schweigen, das Risiko des Todes statt Lebensqualität und Sicherheit, Kritik anstelle von Schmeichelei, sowie moralische Pflicht anstelle von Eigeninteresse und moralischer Apathie«Michel Foucault
at Berkeley, Oct-Nov 1983] Jan Freyn
Svenja Flaßpöhler
spricht mit taz FUTURZWEI (Peter Unfried und Harald Welzer)Francis Fukuyama
Eckhard Jesse
Torsten Körner
Andreas Reckwitz
Peter Sloterdijk
Hans Ulrich Gumbrecht