Wanderpoeten
Hier verwendet als Sammelbegriff für wandernde Textkünstler, idealtypisch überhöht in der Trinität von:
- Dichter (griechisch poiētḗs), also Textschmiede von Geschichten, die aktuelle Ereignisse und Personen einbanden, lobend oder schmähend wie etwa
Homer
. - Sänger (griechisch aoidós Àöden´), die ein Instrument benutzen wie die Harfe oder Leier, und damit Texte und Töne verbanden wie etwa
Orpheus
.
Diese drei Eigenschaften werden in den ältesten Quellen zwar unterschieden, korrespondieren jedoch nicht eineindeutig mit immer denselben Personen. So mag je nach Fähigkeiten, Situation und Funktion ein Wanderpoet von einer Rolle in die andere gewechselt haben; Michaela Esser
nennt sie Wortprofessionisten:
- griechische Rhapsoden und der Mythos von
Orpheus
; - keltische Barden ‘praise-maker’;
- norwegische Skalden;
- englische scop, später gleeman nach dem Instrument und als Teil des Fahrenden Volkes strolling minstrel, circler, cantabank;
- vedisch k rú (> guru), ein wandernder Lobsänger und singender Priester.
- Afrikanische Varombe, etwa in Simbabwe/Mosambik mit dem Lamellophon.
- Bengalische Bauls, eine religiöse Gemeinschaft von Wandersängern.
Solche Wanderpoeten brachten `Kunde´ und verbreiteten Nachrichten ähnlich wie Boten oder Herolde, jedoch im Unterschied zu diesen nicht als Gesandte eines Herrn. Die Fähigkeiten, ihre Kenntnisse erfolgreich bewahren und zu verbreiten, machte sie vordergründig zu Rezitatoren, Barden, Dichtern, Troubadoren, Sängern, indem sie Heldenepos, Ruhmeslieder, Hymnen, Lobgesänge schmiedeten, aber auch Spottlieder, Schmähreden und Satiren.
Damit waren sie jedoch sowohl darauf angewiesen, als Gast aufgenommen zu werden als auch auf das Wohlwollen des Publikums: »Wes Brot ich ess, des Lied ich sing«. Die Suche nach einem Patron als »Sponsor« zieht sich durch die griechischen Erzählungen und spätestens die höfischen Poeten dienten der Propaganda. Das setzt jedoch die Wertschätzung des Wanderpoeten voraus. Als Einzelner ist es einfacher solche Wertschätzung zu erlangen. Die Wünsche des Publikums schnell zu erkennen und entsprechend zu bedienen bedarf der Fähigkeiten eines Schauspielers und Tricksters zum Rollenwechsel. Die Figur des weisen Narren findet sich in vielen Kulturen als Teil der volkstümlichen `oral history´.
Als Erzähler bewahrten sie in ältesten Zeiten vor Einführung der Schrift das kulturelle Gedächtnis der Gemeinschaft, den Kitt gemeinsamer Werte und Vorstellungen. Verknüpft waren diese Glaubenseinstellungen mit Geschichten, in denen `richtiges Handeln´ gemessen wurde an Heroen als Vorbildern und Götter als Richter. Mit dieser Schnittstelle zur Spiritualität wurden die Wanderpoeten auch Teil des »Kultpersonals« (s.u. Bernhard Maier), zu dem auch Opferpriester und Seher(innen) gehörten:
- Das Wissen über die Vergangenheit, über Mythen und Götter, über das Land und die Menschen (Kosmopoliten) erlaubten tiefere Einsichten, gründlichere Urteile und differenzierte Wertungen, aus denen sich Handlungsempfehlungen ableiten ließen, also Fähigkeiten von `Sehern´ oder `Seherinnen´ 3).
- Der Name des Keryx - griechische Opferpriester - stammt vom mykenischen ka-ru-ke `die Stimme erheben, loben, preisen, willkommen heißen´, aber auch `schelten, jammern´ und verbindet sich etymologisch mit dem altirischen bard und ist bedeutungsgleich mit dem altindischen jaritár- `Anrufer, Sänger, Preiser´ 4). Der Stab des Opferpriesters Kerykeion kennzeichnet bis heute den Patriarchen von Konstantinopel.
- Wanderpoeten brachten also einerseits Altes und Bewährtes, schufen andererseits auch etwas Neues, dabei nutzt die Sprache Metaphern mit handwerklich-technischem Bezug: Verse schmieden oder drechseln, Geschichten spinnen, die Rhapsoden `nähten´ ihre Vorträge. Der englische scop und der griechische poiētḗs sind bedeutungsgleich als Former, Gestalter, Erschaffer im ursprünglichen Sinne von techne.
- Priester und Poet brauchen gleichermaßen das Publikum zum Feiern; in den germanischen Erzählungen erfordern heroische Taten immer auch einen ekstatischen Zustand, eine Berauschtheit, also Tanz und Trunkenheit, diesen Zustand bezeichnet protogermanisch wōþuz `Wut´ > besessen, außer-sich-sein. Die keltischen Seher vātes (< *wātis) sind verwandt mit den lateinischen vates und wurzeln im protoindogermanischen *(H)ueh₂t-i- `Seher´ 5).
Vereinfacht als idealtypische Trinität zeigt sich grob folgende Struktur:
Kultperson | Poet | Opferpriester | Seher/in |
---|---|---|---|
Verfahren | translation | transformation | transfer |
Methode | techne | Ritual | Ekstase |
Wert | Können | Gesetz | Schicksal |
Symbol | Rednerstab | Kerykeion | Zauberstab |
keltisch | bard | druidēs | vates |
griechisch | ῥαψῳδός | δρυΐδης | οὐάτεις |
germanisch | Skalden | (Goden) | Völva |
Manche dieser Funktionen finden sich noch heute, etwa bei Straßenmusikern, Alleinunterhaltern, vazierenden Wandergesellen, Drehorgelspielern; in einer armen Gegend wie der Pfalz entstand gar das „Westpfälzer Wandermusikantentum“.
- The Street Singer, USA 1912 Stummfilm mit Earle Foxe und Alice Joyce
- Street Singer, Indien 1938, Film, Regie: Phani Majumdar
- Street Singer, 1862, Gemälde von Édouard Manet
Literatur
Essler, Michaela
Zauber, Magie und Hexerei
Eine etymologische und wortgeschichtliche Untersuchung sprachlicher Ausdrücke des Sinnbezirks Zauber und Magie in indogermanischen Sprachen.
283 S., Diss. Universität Münster 2017
Abschnitt 7.3: Priester, Seher, Dichter - die Wortprofessionisten.
Ergebnis: Zum Sinnbereich Zauber und Magie gehören die jeweils ambivalenten Begriffsfelder heilen & vergiften, binden und bannen sowie sprechen, schreien & singen. Damit ergeben sich Bedeutungsüberschneidungen zu Wanderpoeten und Seherinnen. Schwächer ausgeprägt erscheinen weitere Begriffsfelder um angreifen & unrein & Übeltat. Diese erscheinen eher bivalent: Zum einen geht schlechter Zauber von anderen Gruppen aus (die Anderen, die Fremden?), zum anderen ist der Missbrauch der Zauberei innerhalb der eigenen Gruppe gemeint.Hunter, Richard; Ian Rutherford
Wandering Poets in Ancient Greek Culture.
Travel, Locality and Pan-Hellenism.
Cambridge 2011: Cambridge University Press. DOI Inhalt u.a.:- Mary Bachvarova
Hittite and Greek perspectives on travelling poets, texts, and festivals - Peter Wilson
Thamyris the Thracian : the archetypal wandering poet? - Sophia Aneziri
World travellers : the associations of artists of Dionysus
Larsson, S.; af Edholm, K.
(eds.)
Songs on the Road.
Wandering Religious Poets in India, Tibet, and Japan.
Stockholm 2021: Stockholm University Press. DOIMaier, Bernhard
Die Religion der Kelten
Götter, Mythen, Weltbild.
München: Beck, 2001. Kapitel Kultpersonal, S. 153-164Hopkins, Edward Washburn
The Great Epic of India
Character and Origin of the Mahabharata.
Indien: Motilal Banarsidass, 1993.
U.a. S. 365-367 Zu kuśīlavas, sūtas, māgadhas mit Hinweis auf `seers´; Zusammenhang von Rhapsoden und Kuru (366).Bachvarova, M.
From Hittite to Homer
The Anatolian Background of Ancient Greek Epic.
Cambridge University Press 2016. doi:10.1017/CBO9781139048736
Verweis auf kursa (auch: Kuskurša heth., gr.), eine Jagdtasche aus Schaffell, die als Kultgegenstand dient, und verglichen wird mit dem Goldenene Vlies.Bawanypeck, Daliah
Die Rituale der Auguren.
Zugl.: Berlin, Freie Univ., Diss., 2001 u.d.T.: Bawanypeck, Daliah: Die Rituale der Vogelkundigen. (=Texte der Hethiter 25) XV, 396 S., Bibliogr. S. 380-396 Heidelberg Winter 2005Finnegan, Ruth H.
Oral poetry its nature, significance and social context.
Bloomington [u.a.]: Indiana Univ. Pr. 1992.
Kapitel 4: The poet as seerHelmut Gebhardt
Die Rechtsstellung der Straßen- und Bettelmusikanten im 19. und 20. Jahrhundert.
in: Martin F. Polaschek/Otto Fraydenegg-Monzello (Hg.): Festgabe für Gernot D. Hasiba zum 60. Geburtstag (= Arbeiten zu Recht, Geschichte und Politik in Europa, Bd. 4). Graz 2003 S. 27–41