Ränder der Wahrnehmung von
Christian T. Schön
taz 31.03.2003, Ausgabe 7018 S. 21Reisen ohne Karte ist heute kaum vorstellbar, auch ein Navi zeigt sie. In der Antike gab es zwar Karten, aber man reiste über Land mit einem Itinerar von Ort zu Ort und entlang der Küste mit einem Periplus mit Blick auf die Landmarken der Küste. Gezeichnete Karten waren zuerst Seekarten, dann erst Landkarten, aber immer dienten sie der Orientierung und insbesondere Weltkarten (lat. mappaemundi, frz. mappemondes) sind ein Ausdruck eines zeittypischen Weltbildes so wie der Globus Ausdruck der Raumvorstellung ist.
Die Merkmale einer Karte sind deren Rand, der Strich und der leere Raum dazwischen. Erst wird der Rand festgelegt (Horizont & Ende Gelände), dann der Strich geführt; Letzteres als Ausdrucks eines Eindrucks, als radikal reduzierte und abstrahierte Natur. Der horror vacui als Angst vor dem weißen Nichts verführt dazu, mehr zu zeichnen, als ist und gebiert Ungeheuer: den Riesenwal auf See- und die Löwen auf Landkarten. Der Strich bildet nicht das Nahe ab, sondern die Ränder der Wahrnehmung an der Grenze zur Undeutlichkeit und macht den Reisenden damit zum Grenzgänger. Geographen beschränken sich dort auf das Eindeutige, Künstler gewähren der Phantasie die Macht über den Strich 1). In einer Zeit der Navigationssysteme muss sich die Karte neu erfinden, beispielsweise sind die Stadtpläne von Blue Crow Media solche Karten, die die Welt bedeuten (Kevin Hanschke
in FAZ 20.11.2021).
Entdecker hatten weder das eine noch das andere, schließlich zogen sie ja aus, um Unbekanntes zu erforschen und Wissen über die Erde zu sammeln. Das Wissen einheimischer Führer zeigte den Einstieg in Form von Natural Mapping (auch: Indigenious mapping), wechselte aber dabei zwischen den Weltbildern der sich Begegnenden und wurde dabei neu erfunden. Dabei erweiterte sich die Welt von mal zu mal. Reisende fragen sich jeden Tag erneut: Wohin?
Schelhaas, Bruno
; Wardenga, Ute
Schelhaas, Bruno
; Wardenga, Ute
Voigt, Isabel
Solange das Ziel nicht in Sicht ist, benötigt man Informationen zur räumlichen Orientierung oder man folgt einfach der Straße. Der Weg, dem man folgen kann, setzt bestehenden Verkehr voraus, also andere Menschen mit ähnlichen Zielen. Sich für den richtigen Weg zu entscheiden (Wegfindung), ist auch ein sozialer Akt, der Vertrauen erfordert, damit man sich nicht verirrt. Irrwische und Irrlichte wollen dies verhindern.
Reisetypisch ist es, raumbezogene Informationen linear zu sammeln, als Tagesetappen, Logbuch oder Roadbook. Diese können zeichnerisch verdichtet werden, in der einfachsten Form als lineare Wegekarte oder Itinerar. Die vier Voraussetzungen dafür sind 2):
Seit vielen Jahrtausenden praktizieren Menschen dies als Felskunst 3), Sandbild, Steinsetzung, Wegzeichen, Stabkarten, siehe Natural Mapping. Enthält eine Karte mehr als einen Weg, wird sie zur Orientierungskarte, weil sie mindestens Himmelsrichtungen angeben muss, besser auch einen Massstab. Das älteste Koordinatensystem bezieht sich auf Sterne, Sonne, Mond und wurde erzählt, etwa als Gedicht:
A. Schott, R. Böker
Kartographie gilt als grafische Darstellung (Kunst und Handwerk 4) von subjektiven Beobachtungen und objektiven Ergebnissen der Forschung 5). Karten sind im besten Fall gute Fiktionen, die die Realität veranschaulichen 6). Dabei ist die Art der Karte durch das Medium geprägt: Buchdruck, Farbdruck, Monitor. Das führt absurderweise auch dazu, dass Expeditionen unternommen wurden auf der Suche nach kartographischen Merkmalen, die konstruiert sind, etwa die Datumsgrenze als Problem der Längengrade:
Umberto Eco
Dava Sobel
John Harrison
(1693–1776) entwickelte 1759 mit der H4 das erste präzise Chronometer für den Gebrauch auf Schiffen und schuf damit die Voraussetzung das Problem der Längengrade zu lösen, wie dies James Cook
nach seiner zweiten Weltreise am 30. Juli 1775 praktisch bestätigte.Vielleicht hat der eine oder andere Globetrotter in Ecuador schon einmal eine Pyramide gesehen? In Caraburo und Oyambaro, Gemeinde Yaruquí, stehen zwei, andere stehen in San Antonio de Pichincha, in Calacalí und Quito. Sie erinnern an die Arbeit von Vermessungsexpeditionen.
Dass die Erde keine Scheibe ist - darüber war man sich einig. Auch darüber, dass sie wohl die Gestalt einer Kugel habe. Doch nun ergaben neueste Messungen, daß diese Kugel mitnichten gleichmäßig sei. Isaac Newton
stellte als erster die These auf, daß die Erde an den Polen abgeflacht sein müsse. Die These konnte überprüft werden, indem die Länge eines Längengrads am Äquator mit dem eines in Polnähe verglichen wurden. Zwölf Forscher aus verschiedenen europäischen Ländern brachen 1735 auf, um einen Längengrad in Ecuador zu vermessen. Es waren die ersten Nichtspanier, die einen Teil des südamerikanischen Kontinents erkundeten. Zehn Jahre blieben sie unterwegs, denn ihre Aufgabe war meßtechnisch äußerst aufwendig und wurde erschwert durch Auseinandersetzungen mit der einheimischen Bürokratie.
Sie vermaßen Dreiecke, deren Eckpunkte auf den höchsten Bergen des Landes lagen (Triangulation). Dazu mußten die Meßtrupps tage- und wochenlang in Höhen um 5000 Meter campieren, bis gutes Wetter die Sicht zu den anderen Gipfeln ermöglichte.
Gleichwohl kann man den Bericht und die Leistung der Teilnehmer nur verstehen, wenn ihr Vorhaben eingebettet ist in die wissenschaftliche Diskussion der Zeit und in die politischen Verhältnisse. Einleitend fragt die Herausgeberin Barbara Gretenkord
, eine Historikerin, „Warum kannte niemand die wahre Gestalt der Erde?“
Als Vorlage dieses Bandes diente ein kompilierter Reisebericht, der 1758 in Band 15 & 16 »Der Allgemeinen Historie der Reisen zu Wasser und Lande …« erschien. Dieser hatte den Vorzug, auf mehrere primäre Quellen zurückzugreifen und in besonderem Maße reisepraktische Aspekte zu berücksichtigen, die die Dauer der Expedition erklärten. Der Bericht der Reisenden ist in heutiges Deutsch übertragen und leicht bearbeitet. Anmerkungen erläutern Hintergründe, auch die Situation in den spanischen Kolonien wird erklärt. Inhaltlich vermisse ich nur eine zusammenfassende Darstellung der Expeditionsarbeit, also Meßergebnisse und Resultate.
Charles Marie de la Condamine
Barbara Gretenkord
. Ostfildern: Thorbecke 2003Robert Whitaker
Jean Godin
war ab 1736 Kartenzeichner bei der Expedition von Charles-Marie de La Condamine im Andenhochland zur Vermessung des Äquators und galt ab 1744 als verschollen. Seine Frau reiste auf der Suche nach ihm durch das Amazonasgebiet.Oliver Schulz
Karten triggern die Phantasie mit leeren Flächen zwischen den bekannten Wegen. Die füllte man früher mit Löwen (hic sunt leones). Heute werden dort Visionen mittels Freehand eingebaut.
Place, François
Mark Monmonier
Dünne, Jörg
Die ungeheuren Meeresflächen verführten dazu, Inseln zu erfinden. Wohin das – auch ohne betrügerische Absicht – führen kann, zeigt:
Donald S. Johnson
Charles H. Hapgood
Doch der Reihe nach: Muhiddin Piri
ist eine historische Persönlichkeit und lebte von etwa 1470 bis 1554; der Zusatz „Reis“ ist ein Titel, der etwa Kapitän bedeutet. Er schrieb das »Seefahrerbuch«, Kitab Bahriye, und zeichnete Seekarten, von denen zwei erhalten blieben. Einen Teil der zweiten Karte entdeckte man 1929 im Topkapi Palast in Istanbul. In den 60er Jahren entwickelte Hapgood seine These: Auf der Karte sei die Küstenlinie des antarktischen Kontinents exakt wiedergegeben. Bereits die Tatsache, daß er 250 Seiten für den „Beweis“ braucht, zeigt, daß das eben nicht so augenscheinlich ist. So geht Hapgood einen komplizierten Weg:
Das alles weiß natürlich auch der Verlag. Also peilt er zwei Zielgruppen an: zum einen die Fans prähistorischer Verschwörungsmythen und zum anderen alle jene, die aus Unkenntnis die muffigen Ideen des alten Schinkens für frisch und neu halten. Zur Literatur über Piri Reis
siehe Weltbild.
Eine Gesamtschau, wie sich die arabische Kartographie in islamischer Zeit entwickelte, bietet:
Francisco Franco-Sánchez
Al-Bakrī
(1014–1094): Kitāb al-masālik wa-l-mamālikAbū Zaid al-Balchī
' (849−934): Kitab ṣuwar al-aqālīmTibbets, Gerald R.
Al-Ḥimyarī
(13. Jh.): Kitāb ar-Rawḍ al-mi‘ṭār fī jabar al-aqṭārClare Elisa Morgner
Ibn Ḥawqal
(= Ibn Hauqal, Tod nach 978 n. Chr.): Kitāb ṣūrat al-arḍ, o Kitāb al-masālik wa-l-mamālikAl-Idrīsī
(um 1100−1166): Uns al-muhaŷ wa-rawḍ al-furaŷAl-Iṣṭajrī
(= al-Istakhrī,= al-Fārisī, 10. Jh.): Kitāb al-masālik wa-l-mamālikJayr ad-Dīn at-Tūnisī
: Aqwām al-masālik fī ma‘arifat aḥwāl al-mamālikIbn Khordadhbeh
Fuat Sezgin
(Hg.) (=Publikationen, 39) XXIII, 216, 308 S. Frankfurt am Main 1992: Institute for the History of Arabic-Islamic Science. Reprint der Ausgabe Leiden 1889: Brill.Al-Mas‘ūdī
(um 895−956 ): Kitāb at-tanbīh wa-l-išrāfAl-‘Uḏrī
(=Al-Udhri, 1003−1085): Kitāb tarṣī‘ al-ajbārAl-‘Umarī
(=Ibn Fadlallah al-Umari,1301−1349): Masālik al-abṣār
Das Kitāb al-Masālik wa-l-Mamālik 'Buch der Wege und Königreiche (كِتَاب ٱلْمَسَالِك وَٱلْمَمَالِك) bildet so eine Gruppe von Büchern (KMM), ist jedoch auch das gleichnamige Werk des persischen Geographen Ibn Khordadbeh
(= Ibn Jurradāḏbih, um 820−um 912). Er kartierte und beschrieb die damals wichtigsten Handelsrouten bis hin nach Japan, Korea und China, da er als Beamter zuständig war für Post und Polizei. Diese Darstellungen entwickelten sich im Osten unter persischem Einfluss, sie zeigten anfangs griechische Einflüsse (Klimatenkarte) und einen Darstellungsmodus, der von den römischen Routen übernommen wurde (z. B. Itinerario Antonii).
Ibn Hawqal
reiste explizit mit dem Ziel, Informationen über die Welt zu sammeln und zeigte sich unzufrieden mit den existierenden Werken von Ibn Khurradāḏbih
und al-Jayhanī
. Daher nahm er sich vor, Besseres zu schreiben. Die bis dahin bestehende Einteilung der Welt in klimatische Zonen (aqālīm) über und unter dem Äquator wurde aufgegeben. Stattdessen wurde die bekannte Welt in mamlaka (pl. mamālik) 'Region, Provinz' eingeteilt. In jedem Mamlaka verbanden die Reiserouten (masālik 'Pfade') die Orte, aufgeführt werden Entfernungen und bedeutende Männer, die dort lebten, aber auch historische Erzählungen. Eine Gruppe der Kartographen beschränkt sich auf die Welt des Islam und praktiziert eine religiöse Sicht auf diese Welt. Eine andere Gruppe bedient praktische Interessen, denn offensichtlich wurden solche Zusammenstellungen auch genutzt für Postrouten, von Verwaltungsbeamten oder zur Vorbereitung von Inspektionsreisen oder Kriegszügen.
Blachere, Regis
, Henri Darmaun
Blochet, Edgar
Franco-Sánchez, Francisco
Franco-Sánchez, Francisco
Miller, Konrad
Miquel, André
Nef, Annliese
Pinto, Karen C.
Soucek, Svat
Tyacke, Sarah
J. B. Harley
, David Woodward
(Hg.): The history of cartography, Bd. 3.2 Chicago; London 2007: The University of Chicago press.Revelli, Paolo
Tolias, Giorgos
Fischer, Theobald
Reparaz-Ruiz, Gonçal de
Schilder, Günter
; Van Egmond, Marco
Toulouse, Sarah
Alegria, Maria Fernanda
; Daveau, Suzanne
; Garcia, João Carlos
, Relaño, Fancesc
Cortesão, Armando
Denucé, Jean
Deulin, Georges
Pereira, Gabriel
La Roncière, Charles Bourel de
Sousa, Viterbo
Vasconcellos, Ernesto de
Fernandez Duro, Don Cesáreo
Destombes, Marcel
Nordenskiöld, Adolf Erik
Nordenskiöld, Adolf Erik
La Ronciere, Monique de
, Mollat Du Jourdin, Michel
Pflederer, Richard
Vagnon, Emmanuelle
, Hofmann, Catherine
(Hg.)Wigal, Donald
Abed, Sally
John Mandeville
's The Travels (1357) und Sir Walter Raleigh
's The Discoverie of the Large, Rich and Bewtiful Empyre of Guiana (1596) für die westliche Sicht sowie Risalat Ibn Fadlan
(10. Jahrhundert) und Leo Africanus
' Description of Africa (1526) für die arabische Sicht.Foret, Phillipe
, Kaplony, Andreas
Franco Sanchez, Francisco
al-Balhī
’, X’ siècle) ou le monde en sa diversité (al-Sarif al-Idrîsi
, XIIe siècle).Harley, J. B.
, David Woodward
, Matthew H. Edney
, Mary Sponberg Pedley
, Mark S. Monmonier
Hübner, Johann
Kahlaoui, Tarek
Wolfgang Kainz
Wilhelm Kubitschek
Ingrid Kretschmer
, Johannes Dörflinger, Franz Wawrik (Hg.)Uta Lindgren
, Battista Agnese
Klara Löffler
Oswalt, Vadim
Al Idrisi
(um 1100 – 1166): Buch des Roger, 12. Jh.Al Biruni
: WeltkarteMartin Waldseemüller
(1470 – um 1522): Weltkarte, 1507Gerhard Mercator
(1512–1594): Ad usum navigantium, 1569Matteo Ricci
(1552–1610): Karte der unzähligen Länder der Welt, 1602Ryan, Simon
Uwe Schnall
Stockhammer, Robert
Talbert, Richard J. A.
Wardenga, Ute
Woodward, David
, G. Malcolm Lewis
<html><img src=„https://vg09.met.vgwort.de/na/1c14d222ae0a4e1c87033357bed0960d“ width=„1“ height=„1“ alt=„“> </html>
Christian T. Schön
taz 31.03.2003, Ausgabe 7018 S. 21E. Fettweis
Emmanuel Anati
G. Neumayer
Andrea Sick
Kartenmuster. Bilder und Wissenschaft in der Kartografie.