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Apodemik

Das griechische Wort ἀποδημέω 1) bedeutet so viel wie »fort von zu Hause«, insbesondere im Militärdienst. In der Literatur bezeichnet es seit dem 16. Jahrhundert einen Teil der Reiseliteratur mit Berührungspunkten zu Hodoeporicon, Itinerar, Reisebericht, Reiseführer und Länderkunde. Eine Apodemik ist gekennzeichnet durch drei Komponenten:

Neu an der Apodemik war zum einen das Schaffen einer Methodik, zum zweiten die Verbreitung über das Buch und drittens der Versuch die »richtige« Reise nach gesellschaftlich akzeptierten Regeln zu formen, also über das handwerkliche hinaus eine Reisekunst zu entwerfen. Sie machte die Reise zu einer Schule des Sehens, zur Methodik der Weltanschauung, die daher auch den Zeitläuften entsprechend wechselt (Reisegenerationen) und die literarischen Formen verändert.
Zeitleiste der Reiseanleitungen, insbesondere überschneiden sich damit:
Zeitleiste der Itinerare und Periploi
Zeitleiste des Weltbildes
Liste der Beförderungssysteme
Zeitleiste der Pilgerfahrten
→ Ausstellung 2014 Vedi Napoli e poi muori – Grand Tour der Mönche

Die Apodemik zeigt daher auch einen Paradigmenwechsel an, vom Held und Ritter hin zum Entdecker und Erforscher. Der beste Kenner dieser Literaturgattung Justin Stagl 2) legt den Beginn auf das Jahr 1574 und deren Abschluss auf 1795:

  • 1574 Hieronymus Turler, um 1520–um 1602
    De Peregrinatione Et Agro Neapolitano Libri II. Straßburg
    »Peregrinatio nihil aliud sit, quam labor invisendi & perlustrandi alienas terras, non a quibusvis, nec temere, sed ab idoneis suscipiendus.« übersetzt von Schudt: »Eine Reise soll nichts anderes sein als das Bestreben, die fremden Länder zu durchwandern und zu betrachten, und nicht von jedem Beliebigen aufs Geratewohl unternommen werden, sondern nur von solchen, die dafür wirklich geeignet sind«
  • 1577 Theodor Zwinger (1533–1588) verwendet erstmals den Begriff in:
    • Methodus apodemica in eorum gratiam, qui cum fructu in quocumque tandem vitae genere peregrinari cupiunt. 12 Bl., 400 Seiten, 12 Bl., Basileae 1577: Eusebii Episcopii opera atque impensa.
      In Basel entwickelten Petrus Ramus (= Pierre de la Ramée, 1515–1572), Theodor Zwinger und Hugo Blotius 1568–1569 die Idee, das Reisen zu methodisieren. Das logische Konzept dazu stammte von Ramus, der es allerdings auf alle Wissensgebiete bezog.
  • 1795 Franz Posselt, 1753–1825
    Apodemik oder die Kunst zu reisen.
    Ein systematischer Versuch zum Gebrauch junger Reisenden aus den gebildeten Ständen überhaupt und angehender Gelehrter und Künstler insbesondere. 2 Bände, Leipzig

Ludwig Schudt 3) liefert eine sehr schöne Einführung zur Frage, warum man reisen und welche Zwecke man dabei verfolgen soll. Er sieht mehrere Autoren am Werk, deren Abhandlungen er ideengeschichtlich als identisch einschätzt:

  • Justus Lipsius (1547–1636) mit seinem Brief 1578 an Philippe de Lannoy: De Ratione cum fructu peregrinandi, & praesertim in Italia, der 1586 gedruckt und veröffentlicht wurde (Epistola ad Philipp Lanoyum. Antwerpiae, 1586. 1, 22, 3) 4), basierend auf seinem Italienaufenthalt 1567 bis 1569.
    Ziemlich praxisnah formuliert er die beiden Hauptziele des Reisens, nämlich erstens den größtmöglichen Nutzen für das weitere Leben daraus zu ziehen (utilitas) und zweitens die Annehmlichkeiten in der Fremde zu genießen (voluptas). Das beste Mittel dazu sei es, sich in ständigem engen Kontakt mit den Menschen des Gastlandes bestmöglich zu informieren: »Hic quaerat ergo potius de moribus, legibus, facie cuiusque urbis, principibus, bellis, casibus, aut si quid alias eventuum illuc insigne annotandum …«, eine Empfehlung, die nachfolgend von zahlreichen Autoren kopiert wurde.
  • Hilarius Pyrckmair (belegt 1551–1600) veröffentlichte 1591 De Arte peregrinandi libri II, ein mehrteiliges Werk, bestehend aus:
    • Hilarius Pyrckmair, um 1550 bis ca. 1616
      Commentariolus de arte apodemica, seu vera peregrinandi ratione
    • Hieronymus Turlerus, belegt 1560 als Professor in Marburg bis Ende 1602
      De peregrinatione & agro napoletano libri duo
    • Wilhelm Gratarolus, 1516–1568
      De regimine iter agentium, ein ärztlicher Ratgeber
    • Philalethe Polytopiensi cive [i.e. Ortensio Landi, 1512-1553]
      Forcianae quaestiones, in quibus varia Italorum ingenia explicantur, multa[que] alia scitu non indigna
  • Paul Hentzner, 1558–1623
    Itinerarium Germaniae, Galliae, Angliae, Italiae, cum Indice Locorum, Rerum atque Verborum.
    Noriberga 1612: Wagenmann. Online 1612, Online Ausgabe 1617, Travels in England during the reign of Queen Elizabeth …
    begleitete Christoph von Rehdiger (1579–1636) aus Schlesien ab Mai 1596 und bis 1600 als Tutor durch die Schweiz, Frankreich, England und Italien.
    • Daniel Gruber, 1688–1748
      Discursus de peregrinatione studiosorum
    • Hugo Plotius, 1533–1588
      Tabula peregrinationis continens capita politica
      Eine Liste von 122 Themen, die Reisende erfragen sollten.

Die bei den Genannten entwickelte Methodik findet sich erstmals 5) grafisch aufbereitet und als strukturierte Tabelle („incerto auctore“ - Bild) bei Chytraeus und wird im 17. Jahrhundert von zahlreichen Autoren (Schott 1599, Weigel 1601, Eichow 1604, Ens 1609, Hentzner 1612,Neumaier 1622 …) übernommen.

  • Nathan Chytraeus, 1543–1594
    Variorvm In Evropa Itinervm Deliciæ : Sev, Ex Variis Manv-Scriptis Selectiora Tantvm Inscriptionvm Maxime recentium Monvmenta : Quibus passim in Italia Et Germania, Helvetia Et Bohemia, Dania Et Cimbria, Belgio Et Gallia, Anglia Et Polonia &c. Templa, Arae, Scholae, Bibliothecae […] &c. conspicua sunt : Præmissis in clariores vrbes Epigrammatibus Iulii Cæs. Scaligeri.
    [10] Bl., 846 S. [Christoph Corvinus (=Rab)], Herbornæ Nassouiorum, 1594. Online
»Die wahre Reise sucht keine neuen Landschaften, 
sondern entdeckt Neues im Altbekannten.«
Marcel Proust (1871−1922)

Tatsächlich jedoch sind bis in die Gegenwart Werke erschienen, die als Ratgeber für zeittypische Reiseformen apodemische Züge aufweisen, siehe die Literaturliste Apodemik/Reisetechnik. Abhanden gekommen ist diesen jedoch die Funktion, individuelles Reisen als gesellschaftlich wertvoll zu verstehen. Das Zeitalter der Entdeckungen ist vorbei, weil die Erde rund und alles bekannt ist. Touristen können durch Reisen nichts Neues mitbringen, geblieben sind die Souvenirs. Die Bildung, die Globetrotter mit nach Hause bringen, erfährt dort nur eine geringe Wertschätzung.

Literatur

  • Karl A. E Enenkel, Jan de Jong
    Artes Apodemicae and Early Modern Traveling Culture 1400-1700.
    XIX, 339 S. Leiden; Boston 2019: Brill. DOI Inhalt u.a.:
    • Justin Stagl
      Ars apodemica and socio-cultural research
    • Karl Enenkel
      Loysius's Pervigilium mercurii and other early Latin artes apodemicae.
      The constitution of a genre through intertextuality
    • Thomas Haye
      Lorenz Gryll (d. 1560): a traveller in the service of medical training
    • Jan Papy
      Justus Lipsius on travelling to Italy.
      From a humanist letter-essay to an oration and a political guidebook
    • Robert Seidel
      Debating the use of academic travel: early modern disputations De arte peregrinandi
    • Gabor Gelleri
      Handbooks for the courtier and handbooks for the traveller : intersections of two forms of early modern advice literature
    • Bernd Roling
      Through Canada with Linnaeus : the Swedish-Finnish traveller to America Pehr Kalm and his use of the Ars apodemica of Carl Linnaeus
    • Kerstin Maria Pahl
      Joint adventures : company and companions in seventeenth-century English travelling culture
    • Harald Hendrix
      The rise of a proto-tourist infrastructure in late sixteenth-century Rome and Naples
    • Jan L. de Jong
      Reading instead of travelling: Nathan Chytraeus's Variorum in Europa itinerum deliciae
    • Johanna Luggin
      Thomas Hobbes' journey poem De mirabilibus Pecci (1627): a travel guide for early English domestic tourism
    • Marc Laureys
      Classical tradition and contemporary experience in Hugo Favolius's Hodoeporicon Byzantinum (1563)
    • Justina Spencer
      Habits and habillement in seventeenth-century voyages : Georges de La Chappelle's Recueil des divers portraits des principals dames de la Porte du Grand Turc
  • Günter, Wolfgang
    Ars Apodemica.
    Reiseerfahrung als geplantes Lebenslaufelement.
    In: Rudolf W. Keck, Erhard Wiersing (Hrsg.): Vormoderne Lebensläufe – erziehungstheoretisch betrachtet. Köln / Weimar / Wien 1994, S. 345–356.
  • Alex W. Hinrichsen
    Baedeker´s Reisehandbücher 1832-1990.
    2. A. Bevern 1991
  • W. Hauenstein
    Wegweiser durch Meyers Reisebücher 1862-1936.
    Stadtoldendorf 1993
  • Boris I. Krasnobaev; Gert Robel; Herbert Zeman
    Reisen und Reisebeschreibungen im 18. und 19. Jahrhundert als Quellen der Kulturbeziehungsforschung.
    Tagungsband (Studienkreis für Kulturbeziehungen in Mittel- und Osteuropa, 1978) (=Studien zur Geschichte der Kulturbeziehungen in Mittel- und Osteuropa, 6) zurerst Berlin 1980: Ulrich Camen. 403 S. Essen 1987: Reimar Hobbing. Inhalt:
    • Gert Robel
      Reisen und Kulturbeziehungen im Zeitalter der Aufklärung
    • Harald Witthöft
      Reiseanleitungen, Reisemodalitäten, Reisekosten im 18. Jahrhundert
    • Rainer S. Elkar
      Reisen bildet
    • B. I. Krasnobaev
      Russische Reiseführer des 18. Jahrhunderts
    • E. A. Dudzinskaja
      Die Auslandsreisen A. I. Koselevs in den dreißiger und vierziger Jahren des 19. Jahrhunderts
    • Dan Berindei
      Die Reisen des rumänischen Bojaren Constantin (Dinicu) Golescu nach Mittel- und Westeuropa
    • Jerzy Wojtowicz
      Die Reisen der polnischen Freimaurer im 18. Jahrhundert
    • Eugeniusz Klin
      Die Reise von Adam Mickiewicz und Anton Odyniec durch Deutschland im Jahre 1829
    • A. S. Myl’nikov
      Die slawischen Kulturen in den Beschreibungen ausländischer Beobachter im 18. und zu Beginn des 19. Jahrhunderts
    • Antonin Mestan
      Dobrovskys Reise nach Rußland und die Anfänge der wissenschaftlichen Slawistik
    • Gerard Kozielek
      Kauschs „Nachrichten über Polen“ — Das Werk eines polonophilen Aufklärers
    • Milorad Ekmecic
      Das Bild Bosniens und der Herzegowina in der europäischen Reiseliteratur
    • Hans-Georg Werner
      Zum Quellenwert von Heines Schrift „Über Polen“
    • Norbert Oellers
      Quod bonum publicum promovet. Johann Gottfried Seumes Rußland-Erfahrungen und ihre Darstellung
    • Wolfgang Neuber
      Die Wiener literarischen Verhältnisse um 1800 in zeitgenössischen sächsischen und preußischen Reisebeschreibungen
    • Werner M. Bauer
      Journalistische Briefform und politisches Engagement in der österreichischen Aufklärung
    • Hans Rothe
      Reisen und Reiseerlebnisse in der russischen Literatur 1825—1855
    • Jürgen Kämmerer
      Theorie und Empirie. Rußland im Urteil aufgeklärter Philosophen und Reiseschriftsteller
    • Justin Stagl
      Der wohl unterwiesene Passagier. Reisekunst und Gesellschaftsbeschreibung vom 16. bis zum 18. Jahrhundert
  • Kutter, Uli
    Apodemiken und Reisehandbücher.
    Bemerkungen und ein bibliographischer Versuch zu einer vernachlässigten Gattung.
    In: Das achtzehnte Jahrhundert 4 (1980) 116–131.
  • Klara Löffler
    Warum wir Bridget Jones lieben.
    Oder: Ethnographische Recherchen zur Ratgeberlektüre.
    In: Michael Simon, Thomas Hengartner, Timo Heimerdinger, Ann-Christin Lux (Hg.): Bilder. Bücher. Bytes. Zur Medialität des Alltags. 36. Kongreß der Deutschen Gesellschaft für Volkskunde 23. bis 26. September 2007 in Mainz. Münster, Berlin, New York 2009 (= Mainzer Beiträge zur Kulturanthropologie/Volkskunde, Bd. 3), S. 217-227.
  • Monga, Luigi
    A Taxonomy of Renaissance Hodoeporics: A Bibliography of Theoretical Texts on „Methodus Apodemica“(1500-1700).
    Annali d'Italianistica 14 (1996) 645-662. Online
  • Justin Stagl
    Apodemiken. Eine räsonnierte Bibliographie der reisetheoretischen Literatur des 16., 17., und 18. Jahrhunderts.
    Wien 1983
  • Hermann Wiegand
    Hodoeporica.
    Studien zur neulateinischen Reisedichtung des deutschen Kulturraums im 16. Jahrhundert

    Mit einer Bio-Bibliographie der Autoren und Drucke
    (=Saecula spiritalia, 12) XIV, 574 S. Baden-Baden 1984: Koerner

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1)
Pl. Lg. 954b, Ar. Lys. 100-1, Ar. Nub. 371.
2)
Justin Stagl
Apodemiken. Eine räsonnierte Bibliographie der reisetheoretischen Literatur des 16., 17., und 18. Jahrhunderts.
Wien 1983
derselbe: Ars apodemica and Socio-Cultural Research. S. 17–27 in: Karl A.E. Enenkel, Jan L. de Jong (Hg.): Artes Apodemicae and Early Modern Travel Culture, 1550–1700. Leiden 2019: Brill. DOI
3)
Ludwig Schudt
Kapitel: Reiseeindrücke. In itineribus observanda.
S. 135–189 in seinem Werk: Italienreisen im 17. und 18. Jahrhundert, Wien, München: Schroll 1959. Römische Forschungen der Bibliotheca Hertziana, 15. Online
4)
Schudt schrieb 1959, dieser Brief sei erst 1631 gedruckt worden in Thomae Erpenii… de Peregrinatione Gallica utiliter instituenda tractatus. Item Brevis admodum totius Galliae descriptio : et Justi Lipsii… Epistola de peregrinatione Italica. apud Franciscum Hegerum, Lugduni Batavorum, 1631
5)
Schudt S. 139
wiki/apodemik.txt · Zuletzt geändert: 2024/08/24 13:44 von norbert

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